“Religiöser Analphabetismus” meint wohl “Unglaube”

Die evangelische Landeskirche Hannover sorgt sich – vertreten durch ihren obersten Pfarrer, Ralf Meister, – um ihre Zukunft.

Einerseits beklagt der Landesbischof laut pro einen wachsenden religiösen Analphabetismus, weil vielen Menschen die biblischen Geschichten nicht mehr bekannt seien; andererseits sieht er für eine Gesellschaft ohne Kirche keine Zukunft. “Ich hätte Angst vor einem Gemeinwesen, das ohne die großen biblischen Erzählungen des Trostes und der Barmherzigkeit lebt”, zitiert die WELT.

Beides zeigt die Probleme des evangelischen Klerus – und damit das Kernproblem evangelischer Kirche.

An was auch immer Pfarrer Meister den wachsenden (und nicht konstanten) religiösen Analphabetismus fest macht, die Verantwortung dafür trägt sein Berufsstand. Wir haben einen im Grundgesetz garantierten Religionsunterricht an allen Schulen, das heißt ab der ersten Klasse. Und auch wenn nicht alle Religionslehrer Pfarrer sind, so legen doch die Kirchen den Unterrichtsplan fest und erteilen die Unterrichtsbefugnis (Vokation). Der größte Teil evangelischer Jugendlicher bzw. Kinder evangelischer Eltern besucht dann noch den Konfirmandenunterricht (neun Monate bis zwei Jahre) und in dieser Zeit zwangsweise auch den Gottesdienst (so 20 bis 30). Wo er angeboten wird, besuchen immer noch viele Vorschulkinder und Grundschüler den Kindergottesdienst, es gibt kirchliche Jungscharen, Familiengottesdienste uvwm. Wenn es bis zur Konfirmation also nicht gelingt, in 500 bis 1.000 Unterrichts-, Lehr- und Unterweisungsstunden das “religiöse Alphabet” zu vermitteln, dann liegt das Problem wohl in der Vermittlung oder dem, was vermittelt werden soll, selbst.

Und wie eine Gesellschaft “ohne die großen biblischen Erzählungen des Trostes und der Barmherzigkeit” leben kann, sollte Pfarrer Ralf Meister auch in seiner Landeskirche beobachten können.

Das ist überhaupt der entscheidende Punkt, den evangelische Kirchen- und Gemeindeleitungen mal klären müssten: was das Besondere am Christsein eigentlich ist, ganz empirisch gemessen und nicht theologisch verbrämt aus dem Kopf geboren. Ich schaue mir dazu immer gerne die Oberprotestanten an, die ja fast allesamt Pfarrer sind und somit den Klerus bilden, den heiligen Stand derer, ohne die eine Kirche angeblich nicht leben kann (jeder “Laie” in einer Synode betet heute nach, dass Pfarrer die Schlüsselkompetenz, die Schlüsselfunktion, der Schlüsselberuf evangelischer Kirche sind).
Wirken sie irgendwie glückseliger als Agnostiker und Atheisten? Strahlen sie Lebensfreude aus? Hat man den Eindruck, dass sie den Sinn des Lebens entdeckt haben und weitergeben können? Macht sie ihr fester, geschulter, studierter, fortgebildeter und supervisionierter Glaube zu “Leuchttürmen” in dieser chaotischen, egoistischen, vor sich hin wurschtelnden Gesellschaft? Hält man sie für weise?

Ich muss das regelmäßig alles verneinen. Es gibt tolle Leute darunter – wie überall. Aber ich kann nicht erkennen, dass es einen signifikanten positiven Unterschied zwischen leitenden Pfarrern und Atheisten gibt. Seit 30 Jahren erlebe ich evangelische Kirche “von innen”, und das heißt u.a.: Kleinkariertheit, Intrigen, Hochmut, Mobbing, Unvernunft, Lügen, Seilschaften, Machtgeprotze, Sinnkrise, Despotismus, Untertänigkeit, Peter-Prinzip, Ziellosigkeit, Scheinheiligkeit, Beschiss – alles ganz so wie auch sonst in der Welt.
“Pfarrer sind auch nur Menschen” wird einem gesagt, wenn man das – etwas wohler dosiert – innerkirchlich zur Sprache bringt. Ja klar, auch Pfarrer dürfen zweifeln und suchen, auch ihnen bleiben keine Schicksalsprüfungen erspart und in ihnen fließen die gleichen Hormone wie in uns allen. Nur: Wenn der ganze Zauber wirklich einen Sinn haben soll, dann müsste er erkennbar sein, dann müsste der Glaube Spuren hinterlassen, Menschen prägen, leiten – hin zum Besseren.
Das Problem sind nicht die ganz wenigen Pfarrer, die sexuelle Gewalttaten verüben. Die sind gestört oder einfach kriminell, das kommt leider in den besten Familien vor. Das Problem sind die Tausende Pfarrer, die genauso cholerisch, launisch, hinterfotzig oder geistig arm sind wie ihre Gemeindeglieder.

Der religiöse Analphabetismus ist vermutlich gar kein Bildungsproblem. Immerhin kennen genügend aus der Kirche Ausgetretene biblische Geschichten, die sie nicht als “Erzählungen des Trostes und der Barmherzigkeit” in Erinnerung haben, sondern ganz anders. Um mal den Lautesten von ihnen zu zitieren, den britischen Biologen und Genetiker Richard Dawkins: “Der Gott des Alten Testaments ist – das kann man mit Fug und Recht behaupten – die unangenehmste Gestalt in der gesamten Literatur: Er ist eifersüchtig und auch noch stolz darauf; ein kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker; ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer; ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Välker mordender, ekliger, größenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann.”

Der religiöse Analphabetismus ist wohl eher ein Glaubens- als Bildungsproblem. Und zwar nicht bei den einfachen, zahlenden Kirchenmitgliedern. Sondern bei dem für sie vorgehaltenen Fachpersonal.

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