“Ihr habt versagt” – Und ihr werdet weiter versagen

Sascha Lobo ist toll und was er sagt und schreibt natürlich auch. Constantin Seibt ist auch toll mit dem was er schreibt. Und wenn Seibt dann sagt, die Rede vom Lobo auf der re:publica 2014 sei “eine so flapsig formulierte wie präzis und politisch gedachte”, weshalb er sie mit seiner eigen Finger Mühe transkribiert habe, dann muss man sie einfach lesen, die Lobo-Rede. Und danach verdattert etwas anmerken.

Sascha Lobo sagt sinngemäß: Die meisten Internet-Freaks mischen nicht aktiv mit in der Internet- bzw. Netzpolitik. Sie sind unengagiert und behäbig. Man müsse kämpfen, gegen die Überwachung, für die Freiheit, und wer das nicht selbst machen kann sollte wenigsten Geld spenden, dass professionelle Lobbyisten das übernehmen. Am Beispiel von NSA, Prism und Tempora: “Das ist eine solche gigantische Masse an Informationen, dass man sie nicht mehr bewältigen kann.” Nicht mehr als Hobby.

Das ist alles völlig richtig, das, und vieles mehr, was Lobo in der transkribierten Rede schreibt. Es ist nur kein bisschen neu.
All das beklagen Aktivisten anderer Themenfelder auch schon seitdem sie aktiv sind. Der Schutz der Bekassine,  den Lobo als Sidekick einsetzt, folgt dem selben Impuls wie Lobos Schutz des Internets. Wer sich nicht für Netzüberwachung interessiert, weil er seine gesamte Freizeit der Bekämpfung des Welthungers oder des Waffenhandels oder des Lobbyismus’ oder der Schwulendiskriminierung widmet, kann seit Jahr und Tag solche Wutreden halten, weil man zwar ideell von den meisten Menschen unterstützt wird (zumindest wenn man sie danach fragt), sich aber ansonsten kaum jemand für all diese Probleme interessiert (von denen wir für viele weit mehr Verantwortung tragen als für die “Spitzelattacken”), sich weder mit Zeit noch Verstand noch Geld einbringt. (Und doch erhalten die verschiedenen gemeinnützigen Organisationen 26.000.000.000 Euro im Jahr von Privatpersonen.)

Das Problem ist aber gar nicht, dass die Bürger zu wenig ehrenamtliches Engagement aufbringen für den Kampf gegen all die Ungerechtigkeiten, Brutalitäten und Perversionen. Dass es überhaupt notwendig ist, riesige Lobbyarbeit zu machen, über Jahre hinweg an Meinungskämpfen teilzunehmen, Artikel zu schreiben, Papiere zu verfassen, in Hinterzimmern Gespräche führen zu müssen und damit gegen die gewählte und bezahlte Politik agieren zu müssen, das ist das eigentliche Problem, ja der Skandal – es ist der Bankrott unseres angeblich demokratischen Systems!

Wollen wir Bürger mehrheitlich überwacht werden? Nein! Sind wir der Ansicht, dass eine Elbphilharmonie wichtiger ist als mit diesem Geld tausende Kinder vorm Tod zu bewahren? Nein! Wollen wir Bürger ekelhafte industrielle Massentierhaltung, qualvolle Transporte und Schlachtungen als notwendiges Übel eines globalisierten, totalkapitalisierten Marktes? Nein! Haben wir Verständnis für Waffenlieferungen nach Saudi Arabien – oder überhaupt für Exporte von Kriegsmaterial? Nein!

Jeder von uns kann zig Themen benennen, bei denen er die herrschende Politik korrigieren möchte, – und vieles davon dürfte mehrheitsfähig sein, anderes ließe sich in einem gesitteten Verfahren zur Zufriedenheit der allermeisten klären. Aber so funktioniert Politik eben nicht, wie Lobo selbst weiß: dort zählt, was in Hinterzimmern ausgehandelt wird, und um dort präsent zu sein, muss man stark und mächtig sein.

“Ich fürchte, mittelfristig führt nichts an einem Marsch in die Institutionen vorbei. Und das ist übel. Es fühlt sich schlimm an. Weil Institutionen genauso trocken und anstrengend sind, wie ihr es euch gerade vorstellt. Trotzdem denke ich, dass es nur so funktioniert. Und damit es funktioniert, spreche ich jetzt eine Drohung aus: Organisiert euch! Strukturiert euch! Vernetzt euch! Und gebt Geld!”

Solange Lobbyismus sich darauf beschränken würde, sich an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen, die dann in Wahlergebnissen und damit in klaren Wähleraufträgen, eben in Politik ihren Niederschlag findet, wäre alles gut, würde das System funktionieren. Aber Lobbyismus braucht die Öffentlichkeit höchstens als Claqueure und Finanziers. Die entscheidende Lobbyarbeit geschieht in den Hinterzimmern, bei Abgeordneten, Behördenmitarbeitern, Wissenschaftlern, Meinungsführern, Strippenziehern, Karriereplanern, Egomasseuren.

Da will Sascha Lobo für seine “Netzgemeinde” auch hin. Das ist ihm für sein Anliegen und in diesem System nicht zu verübeln. Aber das ist alles andere als ein revolutionärer Aufbruch. Im Erfolgsfalle ist es dann wohl Lobbokratie.

tl;dr

Was mit einem Bürgerparlament (nach Art der Citizens Jury) in dieser Causa alles anders wäre:

Es gäbe Bürger, die sich so ausführlich wie nötig mit all den Vorgängen der staatlichen (und privatwirtschaftlichen) Überwachung beschäftigen würden. Weil sie dafür freigestellt und bezahlt werden. Nicht nur einer, nicht nur zwei. Sondern hunderte.

Es wäre deswegen aber auch nicht nötig, dass sich alle 3.000 Re:publica-Besucher und noch viel mehr Internet-Freaks in Deutschland mit den Einzelproblemen der Überwachung und Tarnung beschäftigen müssten. Sie dürften weiterhin den Dingen nachgehen, die ihnen Spaß machen (es sei denn, sie werden in Bürgerparlament gelost, – dann müssten sie ihr Netzhobby für eine Woche ruhen lassen) – und sie würden dafür von Lobo gar keins auf den Deckel bekommen müssen.

Die Lobbymächte stünden  einer demokratischen Entscheidung nicht im Weg – schlicht weil sie es nicht können.

Das Bürgerparlament würde ganz bestimmt in eine unkontrollierte bzw. unkontrollierbare Netzstruktur investieren.

Man würde an dieser  Stelle aber auch die Zukunft der eigenen Geheimdienste und Bürgerüberwachung diskutieren und entscheiden.

Das Bürgerparlament würde bis ins letzte Detail erörtern, wie sich “Deutschland” gegenüber “den USA” in der Sache zu verhalten hat, und das Ergebnis dürfte sich weitreichend von Merkels Politik unterscheiden.

“Politische Prozesse sind lang und schwierig auf den Weg zu bringen” – das träfe nicht zu, weil jeder seine Ideen einbringen kann und diese nur eine sehr niedrige Aufmerksamkeitsschwelle überwinden müssen, um professionell beraten und verhandelt zu werden.

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