Losentscheide

Für Gremien oder gar einzelne Aufgaben Menschen auszulosen anstatt sie zu wählen, zu delegieren, zu berufen, zu benennen o.ä. ist vielen immer noch eine dubiose Vorstellung: was da alles passieren kann… Für die “aleatorische Demokratie” ist die Auslosung von Bürgern als Stellvertreter für alle natürlich essentiell – und es ist die ursprüngliche demokratische Idee. Daher hier einfach ein paar Einsatzbeispiele für Losentscheide:

===Politische Ämtervergabe===

+ Wenn bei einer Wahl zwei Kandidaten gleich viele Stimmen erhalten, entscheidet zumeist das Los. So beispielsweise im Mai 2018 in Bordesholm und in Handewitt (Kreis Schleswig-Flensburg). In Bad-Homburg 2016 bei der Besetzung des Magistrats (wenn auch dort politisch umstritten).

===Politische Entscheidungen===

+ Gelegentlich findet sich in Koalitionsvereinbarungen der Losentscheid, wenn die Regierungsparteien sich nicht einig sind, wie sie über ein Gesetz im Bundesrat abstimmen sollen (da dort nur eine einheitliche Stimmabgabe zulässig ist). So sah der Koalitionsvertrag zwischen SPD und FDP in Rheinland-Pfalz vom 30.04.1996 “als Novum” vor, im Konfliktfalle per Los die Stimmführerschaft festzulegen. (Quelle: Carmen Thiele 2008: Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung innerhalb von Staaten und Staatenverbindungen: Staats- und kommunalrechtliche sowie europa- und völkerrechtliche Untersuchungen
Hubertus Buchstein verweist darauf, solche Regelungen würden dazu führen, dass sich die Koalitionspartner einigen, um sich nicht dem Zufall zu unterwerfen.

===Deliberation & Entscheidung===

+ In Oberhausen (Revier) sollen künftig 15 ausgeloste Bürger den OB beraten. (WAZ, Mai 2016)

===Verteilung knapper Ressourcen===

+ Die Ausländerbehörde in Kleve verlost früh morgens die Termine des Tages, um eine nächtelanges Anstehen zu verhindern. Klappt offenbar. (März 2018)

+ In Friedrichstadt wurden im April 2016 erstmals 50 per Los bestimmte Bürger zur Mitarbeit bei der Feuerwehr verpflichtet, da sich nicht mehr genügend Freiwillige fanden. (Bericht: Hamburger Abendblatt)

+ Papst Franziskus hat bei seinem Besuch eines Flüchtlingslagers auf Lesbos im April 2016 auf dem Rückflug 12 Syrer mitgenommen – ausgewählt per Los.

+ Weil sich nicht mehr genügend Ärzte finden, die freiwillig den Notdienst übernehmen, werden in Bremen nun Ärzte dafür ausgelost.

+ Plätze für Schulen oder Universitäten werden regelmäßig unter geeigneten Bewerbern ausgelost. Beispiel: Losentscheid für die zweite Fremdsprache in Nordhausen.

+ Auch  Baugrundstücke werden regelmäßig an zahlungskräftige Interessenten verlost. Beispiel Bauplätze in Haisterkirch (Schwäbische Zeitung , 1. Juni 2018). Oder Container-Stellplätze für Altkleidersammlungen u.ä.

===Perspektiven===

+ Hubertus Buchstein schlägt konkret ein ausgelostes Gremium (“Los-Kammer”) zur Reform des Wahlrechts vor, weil die Abgeordneten in dieser Sache befangen sind. Ebenso schlägt er eine Los-Kammer zur Festlegung der Abgeordneten-Gehälter vor. Dazu gibt es ein Vorbild: In Washington State werden seit 1987 die Politikerbezüge von einem Gremium festgesetzt, dessen Mitglieder überwiegend unter allen Wahlberechtigten ausgelost werden. Beiträge von Buchstein dazu:
Lotterien sorgen für eine gerechtere Politik (Welt)

+ Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Österreich gab es 2013 den Vorschlag, ausgeloste Bürger ein neues Konzept erarbeiten zu lassen, um Parteiferne zu garantieren. (Beitrag: Kurt Bergmann, ehemals Generalsekretär des ORF und Abgeordneter zum Nationalrat (ÖVP). Als die Neuordnung des ZDF-Fernsehrates anstand gab es in epd Medien den Vorschlag, das gesamte Gremium auszulosen, anstatt auf Lobbyisten zu setzen. (Kurzbeitrag Telepolis; ausführlich hier).

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