Berliner Gitter

+ Erstaunlich, dass sich überhaupt noch jemand erstaunt zeigt über das politische Theater, welches Seehofer, Merkel, CSU und CDU seit Wochen aufführen und gerade Richtung Showdown steuern. Denn es ist das normale Geschäft: Es geht nicht um Problemlösungen, sondern um Probleminszenierungen. Aktuell ist ja auch keineswegs nur Horst Seehofer aktiv: Wenn die übrigen Regierungsmitglieder und Parteiwichtigen nicht mit-, sondern Politik machen würden, wäre die Show ja schnell gelaufen. Ich habe das nun schon in zwei Büchern ausführlich beschrieben, aber welchen Politikjournalisten auch immer man auf das Grundsätzliche im jeweiligen Akt hinweisen will, er winkt ab. Denn eine Pressearbeitswelt ohne solche Protagonisten mag sich keiner vorstellen – zu einfach bekommt man auf die eingespielte Weise seine O-Töne, Gerüchte, Interpretationen, Kommentarmaterialien…
Anstatt einen winzigen Teilaspekt der Flüchtlingspolitik über Tage und Wochen rauf und runter zu nudeln, ohne dass irgendetwas Neues dabei herauskommt, zwei Vorschläge:
a) Genau an diesem seit Jahren hoch-emotionalem Thema einmal eine ausgeloste Bürgerversammlung erproben, die sachkundig und in kleinen Kreisen debattieren kann, bis sie eine echte Lösung hat.
b) Und einen Bundesinnenminister egal welcher Partei erst dann wieder ernst nehmen, wenn er endlich das strukturelle Problem der unverfolgten Polizeigewalt im Griff hat. Denn was wir da seit Jahr und Tag erleben, ist einer Demokratie schlicht und ergreifend unwürdig. Nur zwei Medientipps dazu: ein Radio-Feature von SWR2 und ein Dokumentarfilm zu G20: Hamburg Gitter.

+ Den Sinn offener User-Kommentarspalten habe ich noch nie verstanden. Ich bin für die Möglichkeit des anonymen bzw. pseudonymen Kommentierens – aber immer auch für die redaktionelle Bearbeitung der User-Beiträge. So wie das eben beim Leserbrief war – von ganz kleinen Provinzzeitungen abgesehen wurde da ja auch nie alles gedruckt, aber wenn es gut lief auch viel Kritisches und vor allem Geistreiches.
Nach meinen eigenen Beiträgen schaue ich bei Telepolis natürlich immer mal ins Forum, gelegentlich gibt es ja wichtige Rückfragen oder Anmerkungen, auf die man als Autor reagieren sollte. Aber das sind leider die wenigen Ausnahmen. Das meiste ist schlicht und ergreifend Müll, der noch nicht einmal als Einblick in irgendein intellektuelles Prekariat taugt, weil wir natürlich nicht wissen, mit wieviel gesunder oder kranker Lust da viele Leute einfach in Gaga-Rollen abtauchen. Jedenfalls kann ich inzwischen den größten Teil der Kommentare schon selbst schreiben, bevor mein Beitrag überhaupt online geht, so reaktionär sind sie.

+ Für einen eigenen Blogeintrag reichen meine Eindrücke von der diesjährigen Jahrestagung des Vereins “Netzwerk Recherche” nicht aus, und genau das könnte ich mal thematisieren, wenn ich in den nächsten Wochen mit einigen Kollegen darüber reflektiert habe. Denn früher war nicht nur mehr Früher und mehr Lametta, es war auch mehr Knall und Unterhaltung. In diesem Jahr hatte ich wirklich Probleme, überhaupt ein halbwegs relevantes Programm zusammenzustellen, damit sich die Reise nach Hamburg lohnt. Wenig (journalistische) Promis, dafür wirklich sehr viele Studis/ Volos/ junge Freie. Einziges Großthema war #metoo, das nach meiner sehr distanzierten Beobachtung nicht gerade mit journalistischer Distanz behandelt wurde.
Die guten alten Zeiten, da wir bis tief in die Nacht noch diskutiert haben, weil uns der Getränkewagen mit Bier gratis versorgt hat, sind jedenfalls schon lange vorbei. Überhaupt fehlt Thomas natürlich.

+ Bis zu 77 Falschaussagen des US-Präsidenten Donnald Trump entlarvt Glenn Kessler, Fakt-Checker bei der “Washington Post”, pro Tag. Kessler sagt:

“[Trump] glaubt an das, was er in einem bestimmten Moment sagt – selbst wenn es 24 Stunden später komplett widerlegt wird. Und sogar dann, wenn es von dem abweicht, was er eine Woche vorher selbst gesagt hat.”

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