Hambacher Forst: Das Grundsätzliche recherchieren

Der tödliche Sturz eines Berichterstatters im Hambacher Forst ist wie zu erwarten ein großes Medienthema geworden. Dabei muss man ganz nüchtern feststellen: nach dem ersten Informationsstand hätte ein solcher Unfall selbst keine nachrichtliche Relevanz. Ob jemand in seinem Garten vom Apfelbaum stürzt oder mit der Kamera um den Hals von einer Hängebrücke – solche Unfälle sind höchstens lokal relevant, sie passieren, und jede größere Publicity führt zu einer Instrumentalisierung durch Interessengruppe.
Über einen Umweg bekommt der Todesfall im Hambacher Forst natürlich doch Relevanz: die Demonstranten sprechen darüber, es gibt geschockte Augenzeugen, die Polizei hat ihre Räumarbeiten unterbrochen – das Unglück hat Auswirkungen auf die Situation vor Ort. Das hätte natürlich in Berichten nicht verschwiegen werden dürfen, aber es wäre mit einer kurzen, sachlichen Info getan gewesen. Die tatsächliche Medienaufmerksamkeit hingegen ist unverhältnismäßig und verzerrend. Zum einen rückt sie einen mehr oder weniger beliebigen Unfall in den Fokus und verdrängt damit andere Themen. Zum anderen generiert Medienaufmerksamkeit bekanntlich jede Menge PR und Aktionismus, hier konkret: Schuldzuweisungen, Rechtfertigungen und Forderungen aller Art. Jeder erfahrene Journalist kann all das, was kurz nach einem solchen medial sehr präsenten Geschehnis über Twitter, Pressemitteilungen und öffentliche Debatten verbreitet wird, voraussagen, könnte die verschiedenen Statements selbst schreiben. Dass NRW-Innenminister Herbert Reul am Abend einen vorübergehenden Stopp der Räumung des Protestcamps verkündete, dürfte von der starken Berichterstattung wenigstens beeinflusst sein.

Nachdem die Großberichterstattung nun aber in Gang ist, gibt es vielleicht die Möglichkeit, mal über ein grundlegend politisches Thema nachzudenken und zu recherchieren: der proklamierte Paternalismus von Politikern und Verwaltungen.
Der Hambacher Forst wird aktuell geräumt, weil eine Landesbehörde die Baumhausbewohner in Gefahr sah. Formale und tatsächliche Mängel machten es erforderlich, zum Schutz der Aktivisten deren Herzensprojekt zu zerstören. Dies wurde zwar in vielen journalistischen Berichten erwähnt, ebenso die Vorwürfe, Brandschutz und anderes seien nur vorgeschobene Argumente der Politik, um Fakten zu schaffen, doch allseits wurde akzeptiert: rechtens ist das alles schon.

Dabei müssen sich doch für Journalisten zwei Fragen aufdrängen. Die erste ist die nach Freiheit und Eigenverantwortung der Bürger. Denn für diese Bürger schließlich arbeiten Journalisten (auch wenn manche vor allem darauf hoffen, von wichtigen Politikern zur Kenntnis genommen zu werden, aber die finanzieren keinen Sender und keine Zeitung). Es ist erstaunlich, für wie selbstverständlich viele Menschen es halten, dass ihr grundgesetzlich garantiertes Selbstbestimmungsrecht de facto enge Grenzen gesetzt sind, nicht nur beim Cannabis-Konsum. Da vor allem Behörden der untersten Ebene tagtäglich Bürgerrechte beschneiden oder Bürgern Pflichten und Verbote auferlegen, muss der Journalismus dieses Handlungsfeld tagtäglich untersuchen.

Und damit stellt sich die zweite Frage, nämlich bei genau dieser journalistischen Ausleuchtung bürokratischen Handelns: Konnte das Vorgehen, mit einem Großaufgebot von Polizei und Zerstörungswerkzeug 150 Demonstranten im Wald vor Gefahren durch einen möglicherweise denkbaren Brand zu schützen, überhaupt jemals verhältnismäßig sein? Musste nicht rein statistisch das Risiko von Unglücksfällen im Hambacher Forst drastisch steigen? Und da klammern wir noch jede Form von Gewalt aus (für deren Einschätzung auch Statistik helfen könnte).

Bevor jetzt die Gegenargumente kommen, man hätte unter den gegebenen Risiken Journalisten und alle anderen eben nicht in den Wald lassen dürfen: darum geht es nicht. Mit der gezielten Konfrontation wächst in jedem Fall das Risiko.

Ich mache das mit zwei persönlich prägenden Erlebnissen deutlich:

1) Kinder eines Ferienzeltlagers trinkt beim Ausflug auf einen Bauernhof frische Kuhmilch, ein großer Teil bekommt Durchfall. Aufgrund allgemeiner Unterbeschäftigung und wegen des bereits erwähnten behördlich-gespielten Paternalismus’ wird der Katastrophenfall ausgerufen: Großaufgebot von Rotem Kreuz, THW, Pipapo. Journalisten nah und fern sind sich einig und verurteilen Bauern und Freizeitleitung. “Wie kann man nur zulassen, dass Kinder Rohmilch trinken.”
Meine Frage, ob jemand recherchiert habe, wie hoch das Risiko sei, an einer über nicht-pasteurisierte Milch übertragenen Erkrankung zu sterben und wie hoch das Risiko, von einem Milchlaster überfahren zu werden, haben die meisten Journalisten empört als zynisch zurückgewiesen. Dabei geht es doch rein sachlich genau darum: behaupteter Schutz durch zwangsweise Milchsterilisation in der Molkerei versus damit verbundene neue Gefahren (und Einschränkungen).

2) Verkehrsinseln mit Fahrbahnverschwenkungen an Ortseinfahrten sollen Auto- und LKW-Fahrer zum Bremsen zwingen und damit vor allem Fußgänger innerorts schützen. Wer sein Tempo nicht genügend drosselt, der verunfallt.
An einer damals ganz neu gebauten solchen Erbauung hatte ich bei einem langen nächtlichen Feuerwehreinsatz das erste Mal mit einem Toten zu tun. Die naheliegende Frage, wieviel Unfälle solche Verkehrsinseln wohl verhüten (Schätzung) und wie viele sie verursachen (Zählung) habe ich seitdem unzählige Male vor allem Politikern gestellt. Eine irgendwie halbwegs als hilfreich anzusehende Antwort habe ich nie erhalten.

Die Berichterstattung zum Hambacher Forst fokussiert völlig auf die Geschehnisse vor Ort. Es ist richtig, das Verhalten von Polizei und Demonstranten zu beobachten. Aber für die Gesellschaft ist letztlich das Grundlegende dazu viel wichtiger.

Es geht nicht um Schuld (auch wenn Journalisten mindestens so gerne danach suchen wie Staatsanwälte). Es geht darum, Herrschaft immer wieder journalistisch zu hinterfragen und von den Erkenntnissen zu berichten. Weil das viel hilfreicher ist, als Einzelfälle auszuwalzen.

Schreibe einen Kommentar zu Thomas Kaeder Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert