Freie Fahrt für freie Bürger
Mindestens der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) muss kostenlos für jeden nutzbar sein. Also: keine Tickets mehr, keine Kontrollen, keine Werbung für Sparpreise. Stattdessen ausnahmsweise mal Volks-Luxus in Deutschland. Was das bringt, ist klar. Ob sich das rechnet, ist wurscht, wir wollen es haben und fertig.
In der Politik ist das natürlich alles etwas komplizierter. Zur Frage nach Konzepten / Modellrechnungen zu einem ticketfreien ÖPNV teilt das Bundesministerium für Verkehr mit:
„In der Bundesrepublik Deutschland liegt die Zuständigkeit für Planung, Organisation und Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) sowie den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) bei den Ländern bzw. den Kommunen. Die Zustän-digkeit umfasst insbesondere auch die Tarifgestaltung bis hin zu der Sie interessie-renden Frage einer kostenlosen Nutzung des ÖPNV. Die Entscheidung zur Einfüh-rung eines „Nulltarifs“ obliegt daher allein den Ländern.
Die Bündelung der Zuständigkeiten in eine Hand mit der Regionalisierung 1996, als im Zuge der Bahnreform auch die organisatorische und finanzielle Verantwortung des Bundes für den SPNV der Eisenbahnen des Bundes auf die Länder überging, hat sich bewährt. Durch Zusammenführung der Zuständigkeiten für Planung, Organisation und Finanzierung des ÖPNV /SPNV möglichst auf eine Stelle – und zwar dort, wo die Nachfrage entsteht – kann seitdem ein zunehmend besser abgestimmtes Verkehrsangebot bei deutlich verbesserter Qualität sichergestellt werden. Das gilt sowohl für das rollende Material als auch für die Häufigkeit der Fahrten mit einem festen Zeittakt.
Eine wie von Ihnen angeführte bundesweite Einführung kostenloser Tickets setzt zunächst die Klärung der Frage voraus, wer die Kosten der Transporte dann trägt, also wer den Verkehrsunternehmen die entstehenden Einnahmeverluste ausgleicht. Eine Finanzierung über den Bundeshaushalt scheidet im Hinblick auf die oben beschriebene Zuständigkeit der Länder für den ÖPNV und SPNV aus. Länder, Kreise und Gemeinden müssten daher allein die entstehenden Defizite ausgleichen.
Eine genaue und aktuelle Abschätzung der Kosten einer möglichen bundesweiten Einführung kostenloser ÖPNV-Tickets ist mir nicht bekannt. Eine Orientierung kann der „Bericht der Bundesregierung 2001 über die Entwicklung der Kostenunterde-ckung im ÖPNV“ (BT-Drs. 15/3137; s. Anlage) bieten.
Die Idee, mit „kostenlosen Tickets“ mehr Nutzer für den ÖPNV/ SPNV zu gewinnen, ist allerdings nicht neu und ist bereits in einer Reihe von kleineren und mittleren Städten umgesetzt worden. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen hat im Rahmen des Forschungsprogramms Stadtverkehr (FOPS) im Jahre 1999 das Projekt „Kommunaler Nutzen von ÖPNV-Angeboten am Beispiel fahrscheinfreier Tarif-/ Finanzierungskonzepte bei Stadtbusverkehren von Klein- und Mittelstädten“ finanziell gefördert. Auftragnehmer war die Fachhochschule Gelsenkirchen.
Im Rahmen dieses Projekts wurde am Beispiel der Stadt Templin (Landkreis Uckermark/ Brandenburg) untersucht, welchen Einfluss fahrscheinfreie Tarif-/ Finanzierungskonzepte auf die Attraktivität des ÖPNV und den kommunalen Nutzen (u. a. Stadtmarketing, Tourismus) haben. Fahrscheinfrei bedeutet, dass alle Nutzer (Einwohner wie Besucher) die Möglichkeit haben, das ÖPNV-Angebot im Stadtgebiet jederzeit kostenlos zu nutzen. Die Kosten werden dem Verkehrsunternehmen in der Regel durch Ausgleichszahlungen der Kommune ersetzt.
Das fahrscheinfreie Tarif-/ Finanzierungssystem in den untersuchten Städten Templin (wie auch in Lübben, im belgischen Hasselt und mehreren Städten in den USA) hat im Ergebnis zu deutlich und dauerhaft steigenden Fahrgastzahlen geführt. Aufgrund des starken Fahrgastzuwachses haben alle Segmente des Stadtbusverkehrs (Arbeit, Ausbildung, Einkauf, private Erledigungen, Freizeit) hohe Zuwächse erzielt, jedoch in deutlich unterschiedlichem Ausmaß, sowohl in absoluten Zahlen als auch bezüglich der Anteilswerte.
Da fahrscheinfreie Tarif-/Finanzierungskonzepte auf Grund der Ausgleichszahlungen zu einer Belastung des kommunalen Haushaltes führen, ist in dem genannten Forschungsprojekt auch der kommunale Nutzen ermittelt und gegenüber gestellt worden.
Der kommunale Nutzen ergibt sich aus
· sinkenden Vertriebs- und Betriebskosten des Stadtbusverkehrs,
· sinkenden Umweltkosten des Stadtverkehrs,
· sinkenden Unfallkosten im Stadtverkehr,
· sinkenden Investitionsbedarf in städtische Verkehrsinfrastruktur.Die Bedeutung dieser Nutzenelemente hängt maßgeblich davon ab, ob das Ver-kehrsmittelwahlverhalten der zusätzlichen Fahrgäste im Wesentlichen zu einer Abnahme des nichtmotorisierten Verkehrs, wie im Beispiel Templin, führt oder auch zu nennenswerten Fahrtenrückgängen im motorisierten Individualverkehr.
In Templin hat der für den fahrscheinfreien Stadtbusverkehr ermittelte kommunale Nutzen beispielsweise eine Größenordnung erreicht, die einen nennenswerten Anteil der Belastung des kommunalen Haushaltes rechtfertigt.
Im Ergebnis hat das Forschungsprojekt gezeigt, dass ein fahrscheinfreies Tarif-/ Fi-nanzierungskonzept für Stadtbussysteme in Klein- und Mittelstädten wirksam eingesetzt werden kann. In größeren Städten ergeben sich zusätzliche Potenziale des kommunalen Nutzens insbesondere durch Einsparung von Infrastruktureinrichtungen für den fließenden und ruhenden motorisierten Individualverkehr. Zugleich steigen aber die Kosten des fahrscheinfreien Stadtbussystems mit seiner Größe aufgrund höherer Einnahmeverluste. Die Grenze, ab welcher Stadtgröße, Stadtstruktur und Stadtbussystemgröße ein fahrscheinfreier Stadtbus nicht mehr als sinnvoll angesehen werden kann, war nicht Gegenstand dieses Projektes.
Die Einnahmeausfälle durch die Kommune können teilweise an anderer Stelle, z.B. durch Imageeffekte, kompensiert werden, wie Beispiele der Städte Bad Reichenhall, Bad Wörishofen, Berchtesgaden, Garmisch-Partenkirchen, Lübben, Templin und Zwiesel belegen. Die Untersuchungsergebnisse haben zudem gezeigt, dass die Nachfrage auch nach Wiedereinführung des ursprünglichen Fahrpreises höher bleibt als vor der Einführung der Fahrscheinfreiheit.
Mit freundlichen Grüßen
Richard Schild
Regierungsdirektor“
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