Sonnige Energiewende
Der Strombedarf Europas lässt sich vollständig aus regenerativen Energiequellen decken. Binnen 20 Jahren ist ein entsprechend grundlegender Umbau der Energieversorgung möglich – und das sogar, ohne die vielfach geforderte Drosselung des Verbrauchs. Das ist die spannende Kernthese, die der Physiker Dr. Gregor Czisch (Kassel) bei seinen Vorträgen vertritt. Dabei stützt sich Czisch vor allem auf seine Doktorarbeit “Szenarien zur zukünftigen Stromversorgung, kostenoptimierte Variationen zur Versorgung Europas und seiner Nachbarn mit Strom aus erneuerbaren Energien” (2005)
Als einen „kompromisslosen Visionär“ hat die „ZEIT“ Gregor Czisch im letzten Jahr beschrieben, und wer sich von ihm mit Zahlen und Grafiken in eine Welt der umweltfreundlichen und sozial verantwortlichen Stromerzeugung im ganz großen Stil entführen lässt, wird zustimmen. Denn während in den deutschen Kommunen noch über einzelne Windkraftanlagen diskutiert wird, denkt Czisch interkontinental. In seine Modelle zur Stromerzeugung und –verteilung bezieht er ganz Europa und Afrika ein. Im Gegensatz zu den Verfechtern einer Energieautonomie geht es ihm nicht um Stromerzeugung in kleinsten, dezentralen Einheiten, sondern um Großanlagen – an Standorten, die richtig viel Power haben.
Dazu hat er sich im Rahmen seiner Doktorarbeit zunächst einmal die Kapazitäten regenerativer Energie angesehen. Fazit: Von fast allem ist im Überfluss vorhanden. Denn die Sonne schickt Tag für Tag ungeheure Mengen Energie zur Erde, die hier aus Wind, Biomasse, Wärme oder Lichtstrahlung in Strom überführt werden können. Allein mit Windkraft könne man ein Vielfaches des derzeit benötigten Stroms erzeugen. Vorausgesetzt, man baut an den richtigen Stellen und vernetzt die einzelnen Standorte so, dass jahreszeitliche Schwankungen ausgeglichen werden – bei Windenergie etwa Offshore-Anlagen in der Ost- und Nordsee, vor den Küsten Frankreichs und Spaniens sowie Inlandanlagen in Marokko und Algerien.
Die Solarthermie, wie sie derzeit wieder unter dem Projektnamen „Desertec“ diskutiert wird, spielt in den ökonomischen Berechnungen von Czisch keine große Rolle: so interessant das Modell auch ist, in der Sahara mit Parabolrinnen Wärme zu sammeln und in Dampfturbinenwerken in Strom zu wandeln, in den meisten Szenarien haben Windkraftanlagen an Land die größte Bedeutung im Strommix. Praktisch irrelevant sind Photovoltaikanlagen, wie sie in Deutschland durch eine hohe Einspeisevergütung gefördert werden. Der so erzeugte Strom kostet ein Vielfaches gegenüber den Quellen Wind- oder Wasserkraft.
In der Idee, in Europa benötigten Strom in Afrika zu erzeugen, sieht Czisch keinesfalls einen neuen Kolonialismus, sondern Entwicklungspolitik, die zu mehr Gerechtigkeit und einem friedlichen Miteinander führen können. Ein Beispiel: Wenn in Marokko 10% des in der EU benötigten Stroms erzeugt würden, entsprächen die nötigen Investitionen dem Doppelten des gesamten Bruttoinlandsprodukts (BIP) Marokkos. Dabei seien dafür nur 5% des im Land vorhandenen Windkraftpotenzials notwendig. Viele Arbeitsplätze könnten so in dem armen Königreich entstehen. Für das Streben nach Autonomie in der Energieversorgung hat Czisch nichts übrig, er sieht darin gar nationalistische Züge: „Deutschland lebt wesentlich vom Export, und viele Güter des täglichen Bedarfs werden importiert – da ist es absurd, ausgerechnet bei der Energie autark sein zu wollen.“
Den Energiebedarf Europas und Afrikas will Czisch mit großen Windrädern, etwas Biomasse, den vorhandenen Wasserkraftwerken (vor allem zur Speicherung von Energie) und jeder Menge Innovationsfreude decken. So gibt es bis heute weltweit keinen einzigen Prototypen eines Fallwind-Kraftwerkes – obwohl die Idee dazu seit 1975 vorliegt und Czisch darin ein riesiges Potenzial sieht. Dabei würde in Türmen von etwa 1,2 Kilometer Höhe heiße, trockene Wüstenluft mit Meerwasser abgekühlt, was Fallwinde erzeugt, die am Boden des Kraftwerkes Turbinen antreiben.
Ob das, was theoretisch möglich ist, auch politisch umgesetzt werden kann? Czisch zeigt sich auf Nachfrage skeptisch. Einerseits ist er natürlich davon überzeugt, dass seine Vision Realität werden kann, andererseits sieht er derzeit wenig Bemühen. Auch „Rot-Grün“ habe nach dem Beschluss zum Atomausstieg alle Chancen ausgelassen, die Energieversorgung neu aufzustellen, und dass Schwarz-Gelb die inzwischen verlängerte Zeit bis zum Atomausstieg sinnvoll nutzen wird, sieht er derzeit noch nicht.
Ein entscheidendes Problem ist die hohe Rendite-Erwartung der Stromindustrie, die wenig Interesse hat, heute in neue Technologien zu investieren, solange sie alte, abgeschriebene Anlagen etwa zur Verstromung von Braunkohle betreiben kann. „Das sind Gelddruck-Werke“, meinte Czisch. Auch die Einführung eines anderen Leitungssystems (Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung), um Strom über viele tausend Kilometer rentabel transportieren zu können, ist seiner Ansicht nach ohne Gesetze und behördliche Regulierung nicht zu erwarten. Doch was Czisch an eigenen Erfahrungen aus den Beratungen in der Ministerialbürokratie berichtet, macht wenig Hoffnung, politische Entscheidungen in diesem Bereich könnten allein von Vernunft geleitet sein. Schließlich geht es hier wie so oft um sehr viel Geld.
Die Politik ist seiner Forschung gegenüber wenig aufgeschlossen. Derzeit ist er von ihr nicht als Sachverständiger gefragt, und die Bundeskanzlerin – immerhin Berufskollegin – reagiere nicht einmal auf seine E-Mails, wie Czisch beklagt.
Mehr zum Konzept einer Versorgung mit Strom aus regenerativen Großanlagen bei Gregor Czisch.
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