Restverstand evakuiert

+ „Gaulands Kommunikationsstrategie ist alte Populisten-Schule: Man stellt etwas in den Raum, auf das man im Zweifel nicht festgelegt werden kann; die Anhänger aber verstehen die Botschaft ganz ohne Zweifel.“ Befand am Sonntag Sebastian Fischer von spiegel.de. Und es ist alte Journalisten-Schule, einen Furz als Orkan zu verkaufen, statt auf den echten Sturm zu warten oder eben vom extrem lauen Lüftchen berichten zu müssen.

„Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“

Das soll der stellv. Vorsitzende der AfD, Alexander Gauland, in einem Recherche-Gespräch zu Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) gesagt haben. Mit der Veröffentlichung dieses Satzes  hat die Frankfurter Allgemeine erfolgreich ein bisschen Wochenendwirbel fabriziert – Einleitung: „[…] Gauland hat den deutschen Fußball-Nationalspieler Jerome Boateng beleidigt.“ Der Wirbel hat dann sogar das Unwetter in Süddeutschland übertönt.

+ Unklar ist trotz der vielen dutzend Artikel: wann darf man nun seine Abneigung über einen konkreten oder fiktiven Nachbarn äußern? Die Berliner Zeitung hat jedenfalls mal mutig gefragt, was Gaulands Nachbarn denn so als Leute von ihm halten und ob sie lieber den reichen Fußballnationalspieler in ihrer Umgebung hätten. Eindeutiges Ergebnis: Alexander muss umziehen.

+ Die Gauland-Causa hätte natürlich einen eigenen Eintrag verdient. Man steht wirklich fassungslos vor der professionellen Erregungsmaschinerie – obwohl ja nun wirklich ein Fall den nächsten jagd. Allein schon das Muster „X hat Y beleidigt“ oder „X hat Y mit Z verglichen“ taucht ja jede Woche in irgendeiner Spielart auf – und es ist fast immer schlicht falsch.
Ein großer Teil der „Politikjournalisten“ beansprucht inzwischen ohne mit der Wimper zu zucken Moralrichter zu sein. Sie sagen was geht und was nicht geht, was man hinzunehmen habe (sonst ist man Rassist, Sexist, Volksverhetzer, Populist…) und worüber man sich öffentlich erregen muss (sonst sympatisiert man mit Rassisten, Sexisten, Volksverhetzern, Populisten…)
Es fehlt regelmäßig an der Nüchternheit zu prüfen, ob ein Ereignis überhaupt relevant ist – oder ob man es wie bei einer self-fulfilling prophecy erst durch massive „Berichterstattung“ relevant machen muss. Dass sich zu Gauland-Boateng nun der DFB, die Bundeskanzlerin, Psychologen, Historiker und weiß der Kuckuck wer noch alles öffentlich äußern, sagt ja nichts über die tatsächliche Relevanz, sondern nur etwas über die Vermarktbarkeit.
Mir macht ein Journalismus Angst, der die einfachsten Dinge nicht mit Verstand erfassen kann, sondern nur danach sucht, wie sich etwas zum Skandal machen lässt. Der Gauland-Satz über Boateng ist, wie oben schon geschrieben, banal, und er ist mit Sicherheit keine Beleidigung (die in Deutschland strafbar ist; siehe dazu auch Stephan Detjen vom Deutschlandradio). Man hätte darüber kein Wort verlieren müssen (oder die FAZ-Journalisten hätten detaillierter nachfragen müssen, was Alexander Gauland meint, welche Konsequenzen das haben sollte, und was das konkret an wählbarer AfD-Politik bedeutet). Ansonsten ist es eben völlig belanglos, was ein Politiker für Ansichten von der Welt hat.
Es ist geradezu unverschämt, wie Journalisten Trivialitäten zu Nationalthemen hochjazzen, aus keinem anderen Grund als dass es eben ihr Geschäftsmodell ist, dass sie genau damit ihr Geld verdienen. Denn mit dem altklugen Ratschlag, es einfch zu ignorieren, wenn es einen nicht interessiert, ist es ja leider nicht getan: solche Skandalisierungen schaffen Fakten, sie verändern die Gesellschaft, oft genug führen sie zu Gesetzen oder Verordnungen, zu personellen Konsequenzen…
In einem Studiogespräch erläutert das ganze Stephan Detjen nochmal deutlich (mp3). Widersprchen möchte ich ihm aber, dass es sich auch in diesem Zusammenhang um eine Skandalisierungsstrategie der AfD handelt. Denn für eine Skandalisieurng hätte Gauland sich jederzeit selbst öffentlich äußern können (und nicht darauf gehofft, dass es die FAZ-Journalisten aufgreifen), und er hätte es viel deutlicher machen können. Nein, die gesamte Skandalisierung wird hier vom Journalismus betrieben, der wie immer Hand in Hand mit der Politik arbeitet, die natürlich das allergrößte Interesse an dem Bohei hat.

evakuieren+ Selbständigkeit ist nicht so das Ding „der Leute“. Ein Beispiel, das uns in Spielarten immer wieder begegnet, ist das Tätigwerden von „Rettungskräften“. Kaputte Häuser werden nicht etwa von den Bewohnern notgedrungen, aber freiwillig verlassen – nein, die Häuser werden evakuiert (Quelle: Spiegel.de). Achten Sie mal auf die Bilder, wenn wieder eine Schule wg. einer Bombendrohung evakuiert wird: da können dann „die jungen Leute“ allein aufgrund der Anwesenheit von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst nicht mehr laufen, ohne gestützt oder wenigstens geführt zu werden. Evakuieren ist eben etwas anderes als rausgehen.

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