Tucholskys Deutschlandbuch in neuer Fassung
Kurt Tucholsky war kein „Comedian“ – er war beruflich vor allem ein politisch engagierter Kritiker im besten Sinne. Leider wird das über seine vielen seichten, mitunter auch nur seicht gelesenen Texte vergessen, u.a. weil am Anfang und am Ende seines publizistischen Schaffens jeweils eine – autobiografisch konnotierte – Liebesgeschichte stand: „Rheinsberg“ und „Schloss Gripsholm“ (wobei auch „Rheinsberg“ noch hätte „Schloss Rheinsberg“ heißen können). Gerade in der ohnehin vernachlässigten Schulliteratur zur Weimarer Zeit steht Tucholsky meist für „Ulk“.
Bereits vor elf Jahren habe ich daher Kurt Tucholskys wunderbares Buch „Deutschland, Deutschland über alles“ in neuer Zusammenstellung veröffentlicht. Das fanden einige mutig, andere unverschämt – der Vorwurf des Namedroppings war vorhersehbar.
Mein „Relaunch“ ist alles andere als ein Verkaufsschlager geworden, aber es gab vor allem bei Lesungen gutes Feedback zu dem Versuch, „den politischen Tucholsky“ in die Gegenwart zu holen, für nicht mehr und nicht weniger als ein Angebot, Tucholskys Kritik auch heute noch für relevant zu halten. Deshalb habe ich nochmal viele seiner Artikel gelesen und eine neue Zusammenstellung gemacht. Das heißt: Alles aus dem Originalbuch herausgenommen, was heute nicht mehr ohne entsprechendes Hintergrundwissen verständlich ist, dafür ergänzt um Tucholsky-Texte, die nicht in der Original-Version von 1929 enthalten waren, – vor allem Texte, die Kurt Tucholsky erst danach geschrieben hat, und da wurde es ja gerade erst richtig dramatisch in Deutschland. Die dezenten Aktualitätsbezüge, die ich 2006 gesehen hatte, waren im Gegensatz zu Tuchoskys Texten inzwischen überwiegend veraltet, so dass gerade hier ein Update nötig war.
Im Ergebnis ist die neue Auflage etwas umfangreicher geworden (240 statt zuvor 174 Seiten), viele Fotos haben wir ausgetauscht, es sind neue Texte hinzugekommen und einige wenige rausgeflogen. Sehr dankbar bin ich dem Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheinsberg, dessen Zeittafeln zum Leben und Wirken Tucholskys ich nutzen durfte, so dass ein kleiner Anhang entstanden ist, der vor allem für den Einsatz in Schulen hilfreich sein könnte.
Optisch ist uns leider kein großer Wurf gelungen, das will ich deutlich sagen. Ich hatte lange den Wunsch, in irgendwie passender Weise das künstlerische Schaffen von John Heartfield zu würdigen, welches dem Original völlig zurecht die Bezeichnung eines „Bilderbuchs“ verliehen hatte. Es gab viele Versuche und auch einige hoffnungsvolle Anfänge, aber letztlich haben wir uns im Redaktionsteam dann doch entschieden, es bei Tucholskys Texten zu belassen, zu denen wir einige aktuelle Fotos gesellt haben (und einige wenige Anmerkungen von mir) – ein taugliches Äquivaltent zu Heartfields Montagen ist uns schlicht nicht gelungen bzw. wir haben niemanden gefunden, der es in der für dieses Projekt passenden Form entwickeln konnte. Daher heißt diese Version im Untertitel auch weiterhin nicht „Bilderbuch“, sondern „Die beste Kritik zur Lage der Nation“ – und das wird Kurt Tucholsky hoffentlich gerecht. Weiterhin haben wir einige Fotos aus dem Original übernommen, soweit dies urheberrechtlich möglich war und zu den Texten passte.
Bevor ich noch ein Wort über den Preis verliere, zu dem es wie wohl bei vielen Büchern immer wieder Fragen gibt, sei aus einigen Rezensionen zum ersten Relaunch zitiert, weil sie letztlich gut begründen, warum es jetzt nochmal eine neue Zusammenstellung gibt:
Malte Horrer rezensierte für literaturkritik.de nach einem Rüffel für die seiner Ansicht nach zu undeutliche Trennung zwischen Originaltexten und Kommentierungen:
„Aber sonst hat Timo Rieg alles richtig gemacht. Dieser radikale Relaunch von Tucholskys
Deutschlandkritik hat etwas sehr Entscheidendes geschafft: Er hat dieses Werk wieder lesbar gemacht! Rieg hat uns Tucholsky neu erschlossen, auch und gerade deshalb, weil er uns mit der Zusammenstellung der einzelnen Elemente des Buches vor Augen führt, wie stark viele Probleme im heutigen Deutschland die gleichen sind wie in dem der 1920er-Jahre.“
Genau das war das Ziel, und daran habe ich mich auch bei der jetzigen Version orientiert, deshalb habe ich die Textauswahl nochmal verändert.
Hugo Ernst Käufer, Mitglied des deutschen PEN-Zentrums („Poets, Essayists, Novelists“) schrieb in der WAZ:
In einer Zeit, in der notwendige gesellschaftliche, soziale, politische und kulturelle Kritik in zunehmend grassierendem Comedian-Klamauk verkommt, ist es wichtig, sich an Kurt Tucholsky als einen herausragenden Literaten und Herausgeber („Weltbühne“) während der Weimarer Republik zu erinnern, dessen Bücher auf dem Scheiterhaufen der Nazis 1933 verbrannt wurden. Diese Erinnerungsarbeit leistet in überzeugender Weise die von dem Bochumer Verleger und Publizisten Timo Rieg herausgegebene und informativ kommentierte Neuausgabe des 1929 erstmals erschienenen Buches „Deutschland, Deutschland über alles“ in Auswahl, die von weiteren Beiträgen des glänzenden Stilisten und engagierten Zeitkommentators ergänzt wird.
In der „Wolfsburger Allgemeinen“ hieß es im Bericht einer Lesung:
Mit Originaltexten und Zitaten aus seinem Buch, einem Update von Tucholskys „Deutschland, Deutschland über alles“ brachte [Rieg] das Publikum zum Lachen und Nachdenken. „Wenn man Tucholskys Werke heute überarbeitet, ohne die alten Zahlen und Namen, ist es immer noch aktuell“, begründete [er] seine Begeisterung für den Literaten. Davon überzeugte er auch das Publikum.
Und nun noch ein Wort zum Preis: warum 18 EUR für ein Buch mit alten Texten?
Zunächst: wie in vielen anderen Geschäftsfeldern bleibt der größte Teil des Geldes beim Handel. Der Haupteinkäufer Barsortiment (Zwischenbuchhandel, der die einzelnen Buchhändler beliefert) nimmt 50%, dazu kommen noch die Transportkosten. Was bleibt, ist ein Bruttobetrag inklusive der Mehrwertsteuer, ca. 7 EUR je Buch. Davon muss der Verlag die Herstellung der Bücher bezahlen (Satz, Layout, Bildrechte, Druck, Bindung…) und möchte auch noch etwas verdienen, zumal er bei jedem Buch finanziell in Vorleistung gehen muss und das Risiko trägt, die Auflage nicht im kalkulierten Zeitraum zu verkaufen. Da bleibt für Autoren (oder Herausgeber) nicht mehr viel übrig und es kann sich jeder selbst ausrechnen, dass nur Bestseller lukrativ sind, aber keine kleinen Liebhaberauflagen.
Ich hoffe also nicht auf den großen Verkaufserfolg, sondern darauf, nochmal einige Leute für die Lektüre des politischen Kurt Tucholsky gewinnen zu können.
Kurt Tucholsky
Deutschland, Deutschland über alles
Die beste Kritik zur Lage der Nation
240 Seiten | gebundene Ausgabe (Hardcover) | EUR 18,–
ISBN 978-393808192-1
Update zur Lieferbarkeit 2024: Inzwischen ist das Buch – wie üblich – nicht mehr über die Barsoritmente zu beziehen und wird daher auch von den meisten Online-Buchhändlern nicht mehr angeboten. Buchhandlungen können es aber weiterhin beim Verlag bestellen. Bei amazon ist es derzeit noch als Neuware verfügbar. Ansonsten empfehle ich, auf ein gebrauchtes Exemplar zurückzugreifen, zum Beispiel via booklooker.de.
Weitere Hinweise:
* Im Buch habe ich zum Thema „Tucholskys Satireverständnis“ bereits auf den Sudelblog hingewiesen. Gerade hat Autor Friedhelm Greis mit einem Kommentar zum Film „Kästner und der kleine Dienstag“ wieder seine ungeheure Kenntnis der Literaturszene jener Zeit bewiesen. Der Blog ist ein wunderbarer Fundus für Einordnungen dieser Art – große Leseempfehlung.
+ Volle Punktzahl hat das „Remake“ von InKulturA bekommen.
Der Leser merkt sofort, daß Tucholsky auch fast 90 Jahre nach seiner Veröffentlichung von „Deutschland, Deutschland über alles“ nichts an Aktualität und Modernität eingebüßt hat.
+ Michael Angele meinte zur Erstausgabe seinerzeit in der (längst vergessenen?) Netzeitung, es sei ein „philologischer Grobian […], der sich wenig um die originale Erscheinungsweise des Buchs kümmert“. Er unterzog die Auswahl einem Aktualitätscheck und kam zu einer einigermaßen wohlwollenden Bilanz:
Es hat sich eben viel verändert. Nicht nur im deutschen Verkehr. Auch das Verhältnis zu Militarismus und Obrigkeit ist ein anderes geworden, die «Beamtenpest» scheint nicht mehr unbesiegbar, die Presse mag gegängelt werden, die Justiz sich irren, die selben sind sie nicht mehr. Nein, was bleibt, ist eine einmalige, unverkennbare Stimme, die über die Zeiten hinweg aus den Texten von «Deutschland, Deutschland über alles» spricht.
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