Reformen beim Bundesverfassungsgericht

Das ausführliche Gespräch Tilo Jungs mit Andreas Voßkuhle, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), ist geeigneter Anlass für einige Anmerkungen zu diesem Gericht.

Geändert habe ich meine Sicht auf die bunte und parteipolitisch ausgehandelte Besetzung der beiden Senate. Die Leistung einzelner Richter kann ich ohnehin nicht beurteilen, aber Voßkuhles Plädoyer für die vielfältigen Blickwinkel, die eben mehr als nur den des Verfassungsrechtsexperten bieten sollen, finde ich überzeugend. Und dass auch ein ehemaliger Ministerpräsident (Peter Müller, Saarland, CDU) sehr schnell von der Politiker- in die Richterrolle findet nehme ich Andreas Voßkuhle auch ab.

Das Gericht braucht mehr Personal. Es muss möglich sein, über beklagte Grundrechtsverletzungen schnell zu entscheiden. Es ist unwürdig, dass etwa beim Verlangen nach Sterbehilfe die Kläger nicht sofort Rechtshilfe bekommen, sondern sich die Verfahren erledigen, weil der Antragsteller dann irgendwann doch qualvoll verstorben ist. Auch zur Corona-Politik hätte es viel schnellere Entscheidungen geben müssen. Ob es wirklich notwendig ist, die allermeisten Klagen erst  gar nicht zuzulassen, kann ich nicht beurteilen, aber da die Ablehnung von den Richtern nicht begründet werden muss und im ganz überwiegenden Teil der Fälle auch nicht begründet wird, lässt sich gar nicht prüfen, wie in Karlsruhe abgewogen wurde.

Voßkuhle argumentiert gegen mehr Personal, ein weiterer Senat würde die Abstimmung erheblich erschweren. Für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung wachse also der Aufwand enorm. Das sehe ich natürlich als Fan aleatorischer Verfahren grundlegend anders. Viel mehr bräuchte es bei relevanten Verfassungsfragen getrennte Beratungen mehrerer Kammern / Richtergruppen, die unabhängig voneinander entscheiden und deren Urteile nur dann taugen, wenn sie übereinstimmen. Es muss gerade das Ziel sein, alles nicht Konsistente herauszuarbeiten und dann zu klären. Rechtsprechung darf nicht davon abhängen, wer da gerade in Karlsruhe sitzt und wie eine Kammer mit drei Richtern ihre Arbeit organisiert.

Dass es überhaupt nicht-einstimmige Entscheidungen gibt und ausformulierte Sondervoten ist doch eher ein Zeichen dafür, dass Rechtsfragen nicht geklärt sind, dass  entweder die Richter noch nicht genügend Klarheit zum Sachverhalt haben oder aber die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu unpräzise sind, so dass die Gesellschaft nachschärfen müsste.

Nicht besprochen hat Jung mit Voßkuhle leider auch das große Thema der Nichtöffentlichkeit. (Stattdessen ging es länger um die Frage von Fernsehübertragungen bei den wenigen öffentlichen Sitzungen.) Während wir sonst bei jedem Gericht wenigstens theoretisch die Öffentlichkeit fordern (schließlich wird “im Namen des Volkes” geurteilt), ist es beim Bundesverfassungsgericht die Ausnahme. Dies gepaart mit dem sogenannten “Beratungsgeheimnis” macht das BVerfG zu einer Black Box. Weil Jung es nicht angesprochen hat konnte Voßkuhle nun gar nicht versuchen, uns von der bisherigen Praxis zu überzeugen, aber ich räume ihm da bei mir auch wenig Chancen ein. Das “höchste deutsche Gericht” muss öffentlich verhandeln bzw. tagen, und zwar auch schon bei der Vorprüfung über die Zulassung von Verfassungsbeschwerden (so wie Tucholskys Forderung nach Öffentlichkeit der strafprozessualen Vorverfahren bis heute richtig und notwendig bleibt).

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