Dokumentationen männlicher Beschneidung, medienanwaltlicher Tätigkeit und parteipolitisch neutraler Kommentierung

+ Vor 13 Jahren hat der Bundestag das Ab- oder Beschneiden der männlichen Vorhaut legalisiert – im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 1631d BGB). Auslöser war ein (textlich recht knappes) Urteil des Landgerichts Köln (151 Ns 169/11), nach dem die medizinisch nicht notwendige Beschneidung von nicht-einwilligungsfähigen Kindern eine Körperverletzung darstellt (§ 223 StGB). Der angeklagte Arzt war jedoch freizusprechen, weil er dies nicht wissen konnte (sog. Verbotsirrtum, § 12 StGB). Dies löste die sogenannte “Beschneidungsdebatte” aus. Zentraler Empörungspunkt war, dass die rituelle Beschneidung von Jungs jüdischer Eltern im Post-Nazi-Deutschland doch wohl nicht strafbar sein könne. Entsprechend schnell einigte sich der Bundestag auf eine Legalisierung, die nicht auf eine fragwürdige Ausstrahlungskraft elterlicher Religionsfreiheit auf das Kind abstellte, sondern nun grundsätzlich jede nicht medizinische Chirurgie an der Vorhaut als Teil der “Personensorge” definiert.
Ich habe mich damals mehrmals dazu geäußert (u.a.: “Beschneidung ist Recht des Betroffenen, nicht seiner Eltern“).
Aktuell aufgeploppt ist das Unrecht bei mir durch einen Podcast von SWR “Das Wissen”, den ich gerne empfehle. Darin sagt der Kinderchirurg Prof. Maximilian Stehr, der Mitautor der aktuellen Leitlinien “Phimose und Paraphimose bei Kindern und Jugendlichen” (pdf):

>Jede Komplikation, die insbesondere im Rahmen eines Eingriffs sich ereignet, der medizinisch nicht notwendig war, ist natürlich aus ärztlich-ethischer Sicht katastrophal.<

Und Komplikationen gibt es leider gar nicht so selten – von der unvermeidlichen und dauerhaften Veränderung des Penis einmal ganz abgesehen.
Der Kinderchirurg Kolja Eckert räumt in diesem Podcast ein, dass in “Kranken”häusern früher sehr viel beschnitten wurde. Er selbst wurde da offenbar richtig skeptisch erst, als seine eigenen Söhne auch eine Vorhautverengung hatten: “Der erste Reflex sozusagen, den ich da hatte, war: meine Kinder gehen nicht in den OP, die müssen erst wirklich ein Problem haben.” Und letzten Endes war tatsächlich gar nichts zu tun. Dann sensibilisierte er auch die Kollegen. Die Anzahl der Beschneidungen reduzierte sich danach in seiner Klinik um 90 Prozent.
Eine zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde gegen die Neuregelung in § 1631d BGB gab es bisher nicht, obwohl doch längst Betroffene mindestens in die Pubertät gekommen sein müssten (dazu muss man nicht volljährig sein, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; § 90 BVerfGG, verlangt wird die “Grundrechtsmündigkeit”).
SWR-Podcast-Autorin Insa Onken hat dazu auch einen Film gemacht, der nicht nur auf Deutschland schaut.
Vielleicht könnten danach auch Verteidiger der (rituellen) Beschneidung den ein oder anderen Kommentar aus der “Beschneidungsdebatte 2012” revidieren. Nur ein Beispiel, von Ludwig Greven in der Zeit:

>Natürlich kann man über den Sinn althergebrachter religiöser Initiationsriten streiten und darüber, ob sie wehrlosen Kleinkindern heute noch zugemutet werde dürfen. Aber dass eine von einem Arzt – nicht von einem Hinterhof-Beschneider – ausgeführte Zirkumzision in nennenswerter Zahl zu gravierenden Folgeschäden führt, behauptet kaum ein Mediziner oder Urologe.<

+ Ein Dokumentationsfilm über den Medienrechtsanwalt Christian Schertz wird derzeit unter Journalisten lebhaft diskutiert. Kritisch gesehen wird u.a. die Uneindeutigkeit, mit der sich Schertz zu medialen Vorverurteilungen äußert (konkret: Till Lindemann vs. Dieter Wedel). Auch die grundsätzliche Anwaltsrolle bleibt unklar: auf der richtigen Seite stehen oder strikt Parteiinteressen vertreten? Schließlich, das muss Journalisten gerade bei manchem Strafverfahren immer wieder gesagt werden, hat ein jeder Recht auf anwaltliche Vertretung, nicht nur der vermeintlich Gute, nicht nur das Opfer einer Straftat. Jurist Thomas Fischer bleibt wie immer wortmächtig, hier aber auch ratlos, zurück. Weil er dabei etwas unsorgsam war, handelte sich LTO gleich eine Gegendarstellung von Schertz ein.
Interessant sind auch die Ausführungen von Stefan Niggemeier, insbesondere im Übermedien-Newsletter.

+ Karl Lauterbach demonstriert, wie man sich politisch, aber gänzlich ohne Parteipolitik äußert:

>Bei @CarenMiosga kritisiert @MPKretschmer zuerst die Ampel, sie zerstöre durch schlechte Politik die Demokratie. Das ist 100% daneben. Die Demokratie wird von der @AfD angegriffen. An so einem Tag Parteipolitik, wie klein kann man auftreten.<

+ “Sylt-Video”:

>Wieso hören wir seit Tagen von einem Lokal auf Sylt, das die meisten von uns meiden würden? Über gesellschaftliche Relevanz und mediale Echokammern.
Aktuell beobachten kann man den Mechanismus des Agenda-Settings bei dem sogenannten “Sylt-Video”, in dem zum über 22 Jahre alten Song “L’amour toujours” einige Partygäste “Deutschland den Deutschen, Ausländer raus” grölen. Nach der üblichen Verbreitung über Social Media landete der Vorfall bundesweit in den Medien. Eine Medienkritik.<

+ Baywatch Berlin, der Podcast mit Klaas Heufer-Umlauf, Jakob Lundt und Thomas Schmitt, ist fast immer gut, solange er nicht politisch wird – denn dann sind die drei sich sehr einig und fürs Publikum niemals überraschend. Politische Geistesblitze habe ich dort bisher nicht gesehen, jede Positionierung ist sehr korrekt im Mainstream.
In der aktuellen Folge kommen sie unvermeidlich, wenn auch an überraschender Stelle (Fußball) auf das “Sylt-Video” zu sprechen. Ein kurzer Anflug von Nachdenken über mediale Hetzjagd und die Verurteilungsfreude der Masse wird alsbald von Heufer-Umlaufs klarer Position weggefegt: Wer heute Scheiße baut, muss damit rechnen, dass es harte Konsequenzen der Öffentlichkeit gibt. Was Gesetze sagen und Gerichte daraus machen, steht auf einem anderen Blatt, ist geradezu belanglos. Für Ordnung sorgt der Pöbel – wenn es der richtige ist. Job weg, sozial ausgegrenzt, vielleicht auf Jahre stigmatisiert wegen eines erlaubten oder juristisch bagatellisierten Verhaltens – “Pech gehabt, ist eben so”.
Natürlich sehe ich auch hier die wesentliche Verantwortung im Journalismus, der eben regelmäßig genau so reagiert: aus dem Bauch heraus, mit klarer Mission, frei von Objektivität, Aufklärungs- und Erkenntnisinteresse. Und der vor allem keinerlei Maßstäbe hat für all sein Skandalisieren und Beschweigen.

+ Das Titelbild zeigt eine Text-Bild-Schere, die durch (automatische) Übersetzung erzeugt wird:

>Breitmaulnashörner sind nicht weiß, sondern eher gräulich. Vielleicht wurden sie nach ihrem Maul benannt<,

erklärt Windows zu seinem Desktop-Schmuckbild. Hä?, fragen Sie sich vielleicht wie ich mich. Nun ja, auf Englisch heißt der Apparat “White Rhinoceros”.

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