Pazifismus unter schwerem Beschuss
Vor vier Jahren hatte der Wunsch nach Freiheit einen schweren Stand. Er galt als Ausdruck von Egoismus. Freiheit könne niemals über der körperlichen Unversehrtheit anderer stehen, schon gar nicht über ihrem Leben.
Zwei Jahre später 180-Grad-Wende: um die Freiheit zu verteidigen, müssen Menschen sterben, sehr viele Menschen.
Nun handelt es sich dabei nicht nur um zwei sehr verschiedene Situationen, nämlich erst um die Corona-Pandemie und dann um den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Es handelt sich auch um zwei ganz verschiedene Ereignisorte.
Noch wollen in Deutschland weiterhin wenige für die Freiheit sterben. Dass andernorts jedoch hunderttausende ihr Leben lassen, gilt als unvermeidlich.Geht es um sie persönlich, handeln die meisten Menschen pazifistisch. Der Klügere gibt lieber nach, als für sein Recht Blessuren davonzutragen.
Fast jederzeit könnte mich fast jeder ausrauben. Mit etwas Kraft und Werkzeug wird man in meine Wohnung kommen. Auf der Straße würde ich jedem mein Portemonnaie aushändigen, der mir körperlich überlegen ist oder ein Messer zückt. Dass ich dennoch zumeist unbehelligt bleibe, liegt daran, dass die allermeisten Menschen ein, zwei Schritte weiterdenken und abwägen: Lohnt sich das? Welches Risiko gehe ich ein? Wie wird sich das Leben danach verändern?
Ja, es gibt Menschen, die völlig irrational handeln. Es gibt schwere Geisteskrankheiten, die jegliches Verhandeln unmöglich machen. Sollte ein Land von solch einer Person totalitär beherrscht werden, dann würden sich wohl alle Anstrengungen darauf richten, sie aus dem Verkehr zu ziehen. Interne Widersacher, potentielle Nachfolger, Revolutionäre oder – im Kriegsfalle – ausländische Militärs würden im eigenen Interesse mit ihrer Gewalt auf diese eine Person zielen.
Auch wenn permanent von Putins Krieg gegen die Ukraine gesprochen wird glaubt hoffentlich kein deutscher Politiker, kein Militärstratege, niemand aus dem westlichen Bündnis, das fürchterliche Töten und Zerstören hinge allein an dieser einen Person. Denn wie barbarisch wäre der Versuch, einen einzelnen Menschen zu bekämpfen, indem man Hunderttausende in den Tod schickt?
Geht es hingegen bei diesem Krieg tatsächlich um die Auseinandersetzung zwischen Völkern, so ist dazu alles längst gesagt, was es an klugen pazifistischen Gedanken gibt: Von Mahatma Gandhi, Kurt Hiller, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Albert Schweitzer oder Bertha von Suttner zum Beispiel. Nach ihnen sind zwar Straßen, Schulen und Universitäten benannt, doch in der gegenwärtigen Debatte um eine neue Kriegstüchtigkeit Deutschlands spielen sie keine Rolle. Ihre wortmächtige Abscheu vor dem Gemetzel des Krieges wird als Träumerei abgetan. Dabei haben sie, im Gegensatz zu den meisten der heutigen Wortführer, Krieg und Gewalt selbst erlebt. Außer Verteidigungsminister Boris Pistorius war kein Minister der aktuellen Bundesregierung als Wehrpflichtiger beim Militär.
Dass Deutschland seit 8. Mai 1945 mit keinem Nachbarland mehr im Krieg war und damit die längste Friedenszeit erlebt hat, liegt sicherlich weder an der Bundeswehr noch an einer grundlegenden Veränderung der Menschen. Viel mehr haben gute Wirtschaftsbeziehungen, Urlaube und Schüleraustausch jeden Gedanken an Krieg verdrängt. Vergleichbare Erfahrungen mit Russland sind zumindest im Westen der Republik selten und beschränken sich überwiegend auf den ökonomischen Sektor.
Aus diesem Westen wird sicherlich auch deswegen verwundert bis despektierlich auf ostdeutsche Haltungen gegenüber Russland geblickt.
Im Verteidigungskrieg sollen Land und Freiheit vor dem Aggressor geschützt werden. Aber gibt es dabei gar keine Schmerzgrenze?
Wir erinnern uns, wie der deutsche Beitrag vor 30 Monaten begonnen hat: mit der Lieferung von 5.000 Helmen für die ukrainische Armee. Inzwischen sind es 33.190 Gefechtshelme. Es folgten dann Kampf- und Schützenpanzer, Flakpanzer, Raketenwerfer, Maschinengewehr, 54,6 Millionen Schuss Handwaffenmunition und vieles mehr. Bislang weist die Bundesregierung 28 Milliarden Euro für diese Militärhilfe aus.
Die Zahl der Toten dieses Krieges kennen wir nicht, aber es werden mehrere hunderttausend sein. Bis Anfang dieses Jahres wurden die Kriegsschäden in der Ukraine auf mindestens 150 Milliarden Euro geschätzt, die bereits geleisteten internationalen Hilfen für das Land auf 250 Milliarden Euro.
Wieviel soll dieser Krieg noch kosten – an Leben, an Gesundheit, an Infrastruktur, an Geld? Die Ukrainer müssen über ihren Einsatz für Freiheit und Vaterland selbstverständlich selbst entscheiden. Aber ebenso müssen wir in Deutschland über unseren Einsatz entscheiden.
Legen wir einmal alles auf den Tisch, was unsere politischen Vertreter noch in diesen Krieg zu investieren bereit sind: direkte Unterstützung mit Geld, Material und am Ende vielleicht doch auch Soldaten, an indirekter Unterstützung durch Sanktionen mit Wirtschaftsverlusten und höheren Preisen bei uns, sowie dem nie auszuschließenden Risiko, doch noch selbst Kriegsgebiet zu werden. Dann wäre dies alles Teil einer Verhandlungsmasse. Es stünden dann Milliarden von Euro bereit, um nach einer friedlichen Lösung des Konflikts zu suchen und auf viele weitere Tote, Verletzte und Traumatisierte zu verzichten.
Doch entgegen dem, wie fast jeder von uns persönlich handelt, gilt in der Kriegspolitik stets das Motto „alles oder nichts“. Man verhandelt nicht mit einem Aggressor, man lässt sich nicht erpressen, man darf dem Bösen keinen Millimeter entgegenkommen – koste es, was es wolle.
Ich habe vor 35 Jahren den Kriegsdienst verweigert. Wenn sich auch sonst viele meiner Ansichten gewandelt haben, dabei ist es geblieben: ich bin kein Kanonenfutter für die Freiheit anderer und ich werde niemanden auf Kommando töten. Doch um mich herum herrscht eine neue, vor drei Jahren noch für unmöglich gehaltene Kriegsbegeisterung. Leuten wie mir wirft man vor, Trittbrettfahrer zu sein, die sich ihre pazifistischen Träumereien leisten können, solange andere ihren Kopf hinhalten. Wer sich auf das verfassungsmäßige Recht der Kriegsdienstverweigerung beruft, erntet im Deutschland des Jahres 2024 mindestens einen Shitstorm. Wer im Zweifel nicht lieber unter Fremdherrschaft leben als für eine merkwürdig verstandene Freiheit sterben möchte, gehört nicht mehr dazu. Militarismus scheint Staatsräson zu sein.
Gleichzeitig haben wir in der EU vier Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, keineswegs nur Kinder und Jugendliche. Ihnen ist ihr Leben mehr wert als die Verteidigung einer Scholle mit ungewissem Ausgang.
Ich habe natürlich nicht die Lösung für den Ukraine-Krieg, sowenig wie etwa für den Gaza-Krieg. Aber solange wir der militärischen Logik folgen, nach der jedes Verhandeln, jedes Entgegenkommen Schwäche bedeutet, wird das Ende jedes Krieges nur die Pause bis zum nächsten sein, wie es uns die traurige Geschichte der Menschheit bis heute zeigt.
(Erweiterte Fassung zum Politischen Feuilleton „Ukrainekrieg – Wie viele Leben ist ein Quadratkilomater Landgewinn wert?„, Deutschlandfunk Kultur, 10. Juli 2024)
Schreibe einen Kommentar