Jugendfreizeiten brauchen keine stärkere Reglementierung

“Aber schon jetzt ist sicher, dass es die über hundert Jahre alte deutsche Tradition, Jungen und Mädchen in großen Gemeinschaften aufs Land und an die See zu verschicken, in der bisherigen Form wohl kaum noch geben darf.”

Fünf Journalisten braucht der Spiegel, um diesen Quatsch zu schreiben. Es geht um die medial gut aufbereitete sexuelle Gewalt in einem Ferienlager auf Ameland. Dort soll eine Gruppe von am Ende etwa 13 Kindern und Jugendlichen jüngere Mitreisende nachts im Gemeinschaftsschlafsaal sexuell gedemütigt haben.

Der Spiegel macht sich in seinem zweiseitigen Bericht (Ausgabe 30/2010: 34f) die übliche, nie anders zu erwartende Politiker- und Beamten-Linie zu eigen: schärfere Gesetze, strengere Kontrollen. Es fehlt nur die konkrete Forderung, Polizisten in ihrer Dienstzeit gratis mitreisen zu lassen.

“Um Kinder und Jugendliche besser als bisher zu schützen, müssen die Betreuer besser ausgewählt und ausgebildet werden.”

Es würde mich brennend interessieren, was das bei den Spiegel-Redakteuren und Verwaltungsleuten im Kopf für ein Bild ergibt, wenn sie mal über die Trallala-Forderung hinausdenken würden. Ist sexuelle Gewalt nach einem Curriculum negativ lernbar? Muss mir also erst jemand sagen, dass ich anderen keine Flasche in den Po schieben darf, damit ich es auch sicher nicht tue? Oder muss man als jugendlicher Betreuer von Sozialpädagogen darauf hingewiesen werden, dass ich es als Aufsichtsperson nicht dulden darf, wenn Kinder oder Jugendliche untereinander sexuelle Gewalt verüben?

Fakt ist: in menschlichen Gruppen entstehen immer Hierarchien. Wenn ernsthaft 39 Jungs in einem einzigen gemeinsamen Schlafsaal untergebracht worden sind, dann ist ein ausgeprägtes Hierarchiesystem ethologisch gesehen unausweichlich, und wenn die Dominanten auch nur ein ganz wenig schräg drauf sind, gehören Machtspiele, also konkret Erniedrigungen, zum Standardrepertoire. Nur wenn es vor Ort wenigsten eine andere Gruppe gäbe, gegen die man sich abgrenzen kann, die man – gesunderweise spielerisch – zu dominieren versuchen könnte, mag dann Gewalt innerhalb der eigenen Gruppe vermieden werden. Aus der Kriegsführung kennt man den Begriff vom äußeren Feind, aber das Prinzip herrscht in allen hominiden Gruppen: Polizisten gegen Demonstranten und vice versa, Hansa Rostock gegen FC St. Pauli Fans, die eine Burschenschaft gegen die andere, Realschüler gegen Hauptschüler und so weiter. Dass sexualisiertes Verhalten in der Rangordnungsbildung eine wichtige Rolle spielt, dürfte sattsam bekannt sein.

Es ist eine ungeheure evolutive und kulturelle Leistung, Gewalt zu begrenzen, zu kanalisieren und individuelle Machtbestrebungen (die ja biologisch nichts anderem als dem Reproduktionserfolg dienen sollen) zu begrenzen. Dass sich Soldaten in den Krieg schicken lassen, bei hohem Risiko, die eigene Reproduktionsfähigkeit auf Null zu setzen, gehört zu den ganz erstaunlichen kulturellen Leistungen des Menschen (und zu den ganz großen Fragen, wie weit mit Intelligenz ein Blumentopf oder wenigstens das eigene Leben zu gewinnen ist).

Für Jugendgruppen heißt das: es wird immer ein großes Potenzial intrasozialer und intersexueller Gewalt geben. Und es bleibt die immerwährende Aufgabe aller, kulturelle Alternativen aufzuzeigen und einzuüben. Aus genau diesem Grunde fahren Jugendgruppen übrigens auch weg. Es geht ja schon lange nicht mehr darum, den Lungen drei Wochen lang Kohlestaub vorzuenthalten, es geht um “soziales Lernen” durch sinnvolle Freizeitbeschäftigung mit Gleichaltrigen.

Dabei wird immer auch etwas schief gehen können, werden einzelne Veranstaltungen hinter den Möglichkeiten zurückbleiben, anderswo wird man einfach nur Pech haben, weil man das falsche Arschloch in der Gruppe hat, mit dem man gerade nicht fertig wird. Mit absoluter Sicherheit hat sich das, was jetzt von Ameland aus breitgetreten wird, in Variationen zeitgleich an zig anderen Stellen abgespielt. Noch viel mehr gab es aber sexuelle Gewalt an ganz anderen Stellen, dort, wo es keine soziale Kontrolle gibt (die auf Ameland offenbar versagt hat), dort wo die Machtverhältnisse viel klarer sind und daher weit weniger bis gar nicht hinterfragt werden: Im Knast wird – nach allem, was man an Informationen zusammenklauben kann (und was ich aus eigenen Reportagen weiß) – Tag für Tag sexuell gedemütigt, ganz überwiegend von Gefangenen untereinander. Wer kontrolliert, wo die objektiv absolut notwendige Durchsuchung eines Verdächtigen durch die Polizei in eine Spielart von Dominanz und Subordinanz übergeht? Und könnte nicht jeder ehemalige Wehrpflichtige angesichts der letzten Bundeswehr-Skandale in Mittenwald oder Wildflecken von irgendwie ähnlichen Erlebnissen berichten, wenigstens vom Hörensagen, wenn schon nicht von der eigenen Stube?

Dass all solchem – biologisch nachvollziehbarem – Stumpfsinn mit weiteren Reglementierungen beizukommen sein soll, ist eine geradezu zwangsläufige Fehleinschätzung. Ist nicht – um in der Logik der Reglementierer zu bleiben – alles immer schlimmer geworden, obwohl schon lange alles immer strenger wird? Die Linie, einem Problem mit Vorschriften und Sanktionen zu begegnen, ist übrigens selbst ausschließlich von Dominanzvorstellungen geprägt: der Starke und per definitionem in einer Demokratie automatisch Gute sitzt oben und gibt den unter ihm Stehenden Anweisung, widerspruchslos zu vollziehen – auf Verwaltungsebene geht sowas auch komplett ohne öffentliche Debatte und ohne Parlament.

Im Ferienlager auf Ameland ist ohne Wenn und Aber einiges gewaltig schief gelaufen, von außen betrachtet und ohne weitere Detailkenntnisse durch die Räumlichkeit begünstigt, aber ansonsten von wenigen einzelnen ausgelöst, vielleicht nur von einem einzigen, der mit Sicherheit auch jede andere Chance genutzt hätte (oder schon genutzt hat), eine Gruppe zu dominieren, ohne sich dabei an gesellschaftliche Konventionen zu halten (wieso das für bestimmte Typen erfolgversprechend ist, wäre ein eigenes Thema). Dem ist nicht mit weiteren Regelungen – schon gar nicht mit der Jugend-Leiter-Card (juleica) beizukommen.

In ihrem Beitrag (noch nicht online) vergessen die Spiegel-Leute völlig, die andere Seite der Jugendfreizeitarbeit zu beleuchten: nämlich die Prävention, die Integration, das Vermitteln von Sozialkompetenz, das Einüben von Gruppenleben, Konfliktmanagement, Verantwortlichkeit, Entdeckungen und vieles mehr, was man ganz wesentlich und zum Teil auch ausschließlich in solchen Jugendgruppen lernt.

Anders gefragt: Was ist gewonnen, wenn künftig die jährlich “über 50.000 Ferienreisen für Kinder und Jugendliche mit weit über 1,5 Millionen Teilnehmern” nicht mehr möglich sein sollten, weil “die verschärften Vorgaben […] die meisten Anbieter überordern [dürften]”? Berichte über Osnabrücker Ghetto-Kids, die nicht nach Ameland reisen dürfen, könnte der Spiegel auch diesen Sommer schon schreiben. Allein auf dem Silbertablett staatsanwaltschafltlicher Ermittlungen dürfte sich da auch für Osnabrücker Zeitvertreib Jugendlicher einiges finden lassen.

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