Auch Kirchenparlamentarier müssen offen abstimmen
Ein Interview mit Prof. Hubertus Buchstein
Das Wahlgeheimnis gehört für uns heute zu den selbstverständlichen Bedingungen für Demokratie. Selbst in Familien ist oft “geheim”, wie sich die Erwachsenen in der Wahlkabine entschieden haben. Man spricht nicht darüber.
Dabei weist uns die Politikwissenschaft darauf hin, dass geheime Wahlen bzw. Abstimmungen gar keine lange Tradition haben. Ursprünglich wurde selbstverständlich offen abgestimmt, weil Diskussion und Entscheidung zusammengehörten und ein jeder Demokrat zu seiner Entscheidung zu stehen hatte.
Während Parlamentswahlen heute überall geheim laufen, stimmen die Parlamentarier selbst bis auf wenige Ausnahmen stets offen ab. Dies ist damit keine Abweichung von der Regel geheimer Abstimmungen, sondern umgekehrt der demokratische Normalfall.
Anders sieht das noch in manchen Gremien von Verbänden und Körperschaften des öffentlichen Rechts aus. Da wird die offene Abstimmung in den öffentlichen Sitzungen eher als pragmatische Notwendigkeit gesehen, weil schriftliche Abstimmungen über jede Vorlage zu viel Zeit beanspruchen würden. Die Veröffentlichung einzelner Abstimmungsverhalten von Kirchenparlamentariern im November letzten Jahres hat eine kleine, bisher weitestgehend interne Diskussion über Grenzen der Transparenz ausgelöst. Es gab aber auch schon einige öffentliche Debatten dazu.
Über öffentliche und nicht-öffentliche Abstimmungen habe ich daher mit Prof. Dr. Hubertus Buchstein von der Universität Greifswald gesprochen. Buchstein hat 1997 seine Habilitationsschrift “Öffentliche und geheime Stimmabgabe – Eine ideengeschichtliche und wahlrechtshistorische Studie” vorgelegt (2000 bei Nomos erschienen).
Frage: Herr Professor Buchstein, im Deutschen Bundestag wird fast immer offen abgestimmt, auf Antrag von 5% der Mitglieder sogar namentlich, so dass später für jeden Abgeordneten nachlesbar ist, wie er zu einer Sache stand. Ist die öffentliche Abstimmung im Parlament heute überall Usus?
Buchstein: Ja, Sachfragen werden in Parlamenten traditionell offen abgestimmt, Personalfragen meist geheim – allerdings nicht immer, es gibt in manchen Parlamenten auch eine offene Wahl des Regierungschefs. Die geheime Personalwahl hat in der Geschichte der Bundesrepublik schon manchmal zu Überraschungen geführt. Erinnert sei an das Jahr 1976 in Niedersachsen, als ein Abweichler, von dem man bis heute nicht weiß, wer er war, der SPD-Mehrheit einen CDU-Kandidaten als Ministerpräsident beschert hat, nämlich Ernst Albrecht, den Vater von Ursula von der Leyen. Auch beim konstruktiven Misstrauensvotumsantrag gegen Bundeskanzler Willy Brandt 1972 hatte die geheime Wahl auf beiden Seiten zu Abweichungen von den Parteilinien geführt, als einige – wie wir heute wissen: bestochene – Abgeordnete im Ergebnis dafür gesorgt haben, dass Rainer Barzel nicht die erwartete Mehrheit der Stimmen bekommen hat. Und gut in Erinnerung ist manchen sicher noch der unbekannte ‚Heidemörder‘ aus dem Parlament in Schleswig-Holstein, der mit seiner Stimmangabe verhinderte, dass Heide Simonis 2005 erneut zur Ministerpräsidentin gewählt werden konnte.
Frage: Aber es gibt ja auch nicht-öffentliche Sitzungen in parlamentarischen Ausschüssen – da fehlt dann die Öffentlichkeit?
Buchstein: Es gibt zwei Arten von Öffentlichkeit bei politischen Gremien, eine interne und eine externe. So gibt es politische Gremien, in denen nur ihre Mitglieder wissen, wer innerhalb des Gremiums für welche Positionen argumentiert und votiert hat, dies aber gegenüber Außenstehenden nicht kundtun. Generell besteht der Sinn von nicht-öffentlichen Sitzungen von Ausschüssen darin, dass Parlamentarier im Vorfeld parlamentarischer Entscheidungen in bestimmten Beratungssituationen von dem Druck befreit werden sollen, bei jeder Gelegenheit in Wahlkampfmanier an die breite Öffentlichkeit appellieren zu müssen; stattdessen soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden, auszutesten, wie weit sie einander argumentativ entgegen kommen können. Insofern spricht Vieles dafür, einen Teil der Beratungen nicht öffentlich zu führen, bevor es ins Plenum des Bundestages mit seiner breiten Öffentlichkeit geht.
Frage: Welche Formen der öffentlichen Abstimmung kennt man?
Buchstein: Für die öffentliche Abstimmung gibt es sehr verschiedene Verfahren. Es kann per Handaufheben geschehen, per Zuruf, mit namentlich gezeichneten Stimmzetteln oder Stimmkarten, oder mit Hilfe von Computerregistriermaschinen. Das Ziel der offenen Abstimmung ist in der Regel nicht unbedingt, dass es schneller geht – was nur für das fast gleichzeitige Heben des Armes gilt – , sondern dass sich nachvollziehen lässt, wer wie abgestimmt hat.
Frage: Ist die offene Abstimmung über Sachfragen demokratietheoretisch zwingend?
Buchstein: Innerhalb von Parlamenten halte ich sie auf jeden Fall für zwingend, denn nach dem demokratietheoretischen Selbstverständnis des modernen Parlamentarismus wählen die Bürger ihre Abgeordneten und sie wollen von ihnen dann natürlich auch wissen, wie die Gewählten im Parlament agieren. Als Bürger hat man ein Interesse und Anrecht darauf zu wissen, wie die gewählten Abgeordneten abstimmen, um sie ggf. entweder erneut zu wählen oder für jemand anderen zu votieren. Das gleiche gilt für politische Parteien, die ihre Kandidaten aufstellen. Aus diesem Grunde müssten meines Erachtens auch alle Personalwahlen in Parlamenten mit offener Stimmabgabe und nicht geheim erfolgen. Auch Personenwahlen sind Entscheidungen über politische Inhalte. Ich halte es für eine falsche Abweichung von den Prinzipien der repräsentativen Demokratie, dass in der Bundesrepublik für die Wahlen des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung oder bei der Wahl der Bundeskanzlerin, des Bundestagspräsidenten und des Wehrbeauftragten im Bundestag das geheime Abstimmungsrecht gilt.
Die Wahl des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin nach einer Bundestagswahl geheim zu halten ist aus meiner Sicht systemwidrig, da die Parlamentarier mit dem Auftrag gewählt werden, eine im Wahlkampf beworbene Person zum Bundeskanzler zu wählen. Wenn einzelne Abgeordnete dies nicht tun möchten, dann sollen sie öffentlich vor ihren Wählern dafür einstehen oder ihr Mandat niederlegen.
Frage: Das bedeutet klipp und klar: Für die offene Abstimmung gibt es nicht nur pragmatische Gründe, weil es häufig schneller geht, als mit einer Auszählung geheimer Stimmzettel?
Buchstein: Ja, genau. Öffentliche Abstimmungen sind in solchen Gremien für diejenigen wichtig, die diese Personen in diese Positionen gewählt haben und nun wissen möchten, was mit ihrem Votum geschieht. Das halte ich für unabdingbar für eine moderne Demokratie. Die auf den ersten Blick absurd anmutende aber im Zuge der neuen Abstimmungstechniken per PC oder Handy wieder spannend gewordene Frage ist, ob auch das Wahlrecht der Bürger unbedingt geheim sein sollte. Wir wählen heute wie selbstverständlich geheim durch Einwerfen eines Stimmzettels in eine gesicherte Wahlurne. In der Tradition der Demokratie wie im antiken Athen wurde allerdings immer öffentlich abgestimmt, auch bei Personalwahlen. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hat man damit begonnen, aus einem liberalen Rechtsschutzverständnis heraus die geheime Stimmabgabe für allgemeine Wahlen zu Parlamenten einzuführen. Man wollte damit erreichen, dass Wähler nicht korrumpiert werden können oder ihnen z.B. vom Arbeitgeber keine Nachteile für ihr Wahlverhalten drohen können. Alle modernen Demokratien haben mit dem öffentlichen Stimmrecht begonnen. Erst sehr spät wurde nach und nach in verschiedenen Ländern das geheime Stimmrecht eingeführt – in Deutschland haben die Bürger bei den Wahlen zum preußischen Landtag noch bis 1918 kein geheimes Wahlrecht gehabt.
Der Schutz des Abstimmungsverhaltens vor den Augen der Mitbürger gilt jedenfalls nicht für Parlamentarier, denn die Bürger benötigen ein möglichst genaues Bild über deren Entscheidungen, um bei der nächsten Wahl beurteilen zu können, wem sie ihre Stimme geben.
Frage: Gibt es Untersuchungen, welche Auswirkungen offene und geheime Abstimmungen auf das Verhalten der Stimmberechtigten haben?
Buchstein: Nicht im strengen Sinne von laborähnlichen Forschungsergebnissen. Das Grundgesetz und auch die Geschäftsordnung des Bundestages enthalten beide zum parlamentarischen Abstimmungsverhalten zwei unterschiedliche Botschaften. Zum einen sind Abgeordnete als nur ihrem Gewissen gegenüber verpflichtet erwähnt, das heißt, sie haben ein freies Mandat. Zum anderen organisiert sich das Parlament in Fraktionen mit interner Arbeitsteilung, und damit ist das, was häufig als „Fraktionszwang“ bezeichnet wird, automatisch mitgedacht; ansonsten würde das Ganze in einem arbeitsteiligen Parlament auch gar nicht funktionieren können. Würden alle Abstimmungen von den Fraktionen freigegeben und geheim durchgeführt werden, würde es sicher sehr viel häufiger als heute im Parlament zu parteipolitischen Überkreuzungen bei Abstimmungen kommen; ob dies sinnvoll ist, möchte ich bezweifeln. Bei anderen Gremien – man denke an Gewerkschaftsversammlungen, Parteitage oder Universitätsgremien – wird auf besonderen Antrag eher auch einmal geheim abgestimmt. Bei solchen Abstimmungen gibt es zuweilen manch handfeste Überraschung, wenn sich herausstellt, dass zumindest einige Personen offensichtlich anders abgestimmt haben, als sie vorher mit lauten Worten verkündet hatten.
Frage: Kirchenparlamente sind solche Körperschaften des öffentlichen Rechts. Hier trifft man auf die Argumentation, die offene Abstimmung gebe es nur aus pragmatischen Gründen, weil man sonst drei Monate statt drei Tage bräuchte, wenn jeder einzelne Verfahrensschritt schriftlich abgestimmt und ausgezählt werden müsste. Zudem wird argumentiert, dass die Veröffentlichung von einzelnen Abstimmungsverhalten eine Bloßstellung der betroffenen Synodalen sei.
Buchstein: Das halte ich mit Verlaub für eine absurde oder gar vorgeschobene Argumentation. Denn auch ein Kirchenparlament besteht aus gewählten oder delegierten und gegebenenfalls noch kooptierten Mitgliedern, die sich für ihr Abstimmungsverhalten rechtfertigen müssen. Sie stehen ihrer Basis gegenüber in einer Form von Verantwortlichkeit, und das gilt dann eben auch für ihr Abstimmungsverhalten. Deshalb spricht aus meiner Sicht aus grundsätzlichen Erwägungen alles dafür, dass sie offen abstimmen.
Was nicht bedeutet, dass ich nicht nachvollziehen kann, warum es ein Interesse daran gibt, solche Abstimmungen geheim durchzuführen: Man möchte die Synodalen davor bewahren, dass sie zuhause in ihrer Kirchengemeinde unter Druck gesetzt werden, weil sie vielleicht etwas im Interesse der Gesamtkirche entschieden haben, was möglicherweise nicht im Interesse der lokalen Gemeinde ist. Aber mit Verlaub: da müssen die Synodalen dann durch. Es geht auch hier um demokratische Transparenz; zudem sollte man die kirchliche Basis nicht von vornherein in ihrer Fähigkeit und Bereitschaft unterschätzen, von den Argumenten ihrer Repräsentanten lernen zu können. Auf die Vorstellung einer gegenseitigen politischen Belehrung setzt letztlich ja auch der gesamte Parlamentarismus im politischen Raum.
Frage: Braucht es denn dann die Möglichkeit, dass einzelne Synodale zu ihrem Abstimmungsverhalten eine schriftliche Erklärung abgeben können, wie das im Bundestag möglich ist?
Buchstein: Nicht unbedingt, denn bei brisanten Fragen spricht sich das Abstimmungsverhalten Einzelner in interessierten Kreisen in der Regel schnell herum. Zudem steht es jedem Kirchenparlamentarier angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten frei, auf der eigenen Homepage (oder wo auch immer) sein Abstimmungsverhalten zu erläutern. Dies tun Abgeordnete in Parlamenten ja schon seit Längerem und man muss Derartiges meines Erachtens nicht groß formalisieren. Anderseits – wenn die meisten Beteiligten es für sinnvoll halten, kann man solche Erklärungen zum Protokollband hinzufügen. Wichtig ist nur eines: Auch Kirchenparlamentarier sollten wie alle andere Repräsentanten in politischen Gremien in einem permanenten Austausch mit ihrer jeweiligen Klientel oder Basis stehen. Dadurch lernen die Wählerschaften ja auch etwas hinzu. Parlamentarier sind nicht nur Ausführende, sondern sie können mit ihren Überlegungen und Entscheidungen bei anderen Menschen Lernprozesse in Gang setzen, wenn sie die guten Argumente dafür anführen, warum sie sich so oder anders verhalten haben.
Frage: Wie beurteilen Sie die Tendenz, dass viele entscheidende Debatten doch nicht öffentlich geführt werden, in nicht-öffentliche Ausschüsse oder informelle Kreise verlagert werden und dann im Parlament scheinbar nur noch Pro-Forma-Debatten geführt werden?
Buchstein: Das halte ich für einen populistischen Einwand. Es gibt in unserer Gesellschaft bestimmt kein zu wenig an politischer Kommunikation und dem daraus entstehenden öffentlichen Druck können sich Politiker kaum entziehen. Der Anteil der Bundestagsausschüsse, die öffentlich tagen, steigt seit Jahren kontinuierlich an, im öffentlich tagenden Plenum des Bundestages gibt es mehrere Lesungen und der gesamte Prozess wird von einer kritischen Medienöffentlichkeit sehr genau beäugt – meines Erachtens wird das Problem der ‚Herrschaft des Arkanen‘ in der modernen Demokratie deshalb überschätzt.
Zur Person:
Prof. Buchstein war u.a. 2009 bis 2012 Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. In der aktuellen Debatte um Demokratiereformen wird er u.a. mit Vorschlägen zur Auslosung von Bürgervertretern etwa in einer EU-Kammer “House of Lots” wahrgenommen.
Zur Entwicklung von öffentlicher und nicht-öffentlicher Stimmabgabe siehe u.a. seinen Aufsatz: Freie Parlamentswahlen. Die Argumente für die geheime Stimmabgabe in der Frankfurter Nationalversammlung und im Preußischen Abgeordnetenhaus. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29, 706–726, den Buchstein hier als pdf zur Verfügung stellt.
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