Verbotene Fragen

+ Dass Politik regelmäßig ein Popanz ist, liegt sicherlich am Wechselspiel mit den Medien, denen dabei die größere Bedeutung zukommen dürfte. Zwar ist von einzelnen Politikern nicht allzu viel Intellektuelles zu erwarten, allerdings ist der Journalismus auch durch nichts verpflichtet, den täglichen Parteienkindergarten für berichtenswert zu halten. Nun steht in der Süddeutschen zur Wahl Kai Wegners als Bürgermeister von Berlin erst in der dritten Abstimmung mutmaßlich wegen fehlender Stimmen aus der SPD:

Den Christdemokraten wird vor allem ihr Verhalten nach den Silvesterkrawallen vorgeworfen – sie hatten damals nach den Vornamen der mutmaßlichen Täter gefragt.

Sollte das ernsthaft die Begründung gegen eine Koalition sein, so wäre es die Aufgabe der Presse, bei den entsprechenden SPD-Abgeordneten mal die Tassen im Schrank durchzuzählen. Die politische Zukunft der Hauptstadt soll davon abhängen, ob sich Abgeordnete nach den Vornamen von Tatverdächtigen erkundigt haben?
Allerdings gehe ich davon aus, dass auch ein relevanter Teil des Medienpublikums und damit des Souveräns genau und teilweise nur mit dieser boulevardesken Klaviatur zu erreichen ist: denn es ist damit so schön einfach wie beim Fußball, Fan eines Trikots zu sein – und mithin alle anderen Farben und Muster zu Gegnern zu erklären. Um das emotional zu bekräftigen reicht dann ab und zu eine Tratschgeschichte, die man sich die nächsten Jahre fortwährend selbstvergewissernd gegenseitig erzählt. “CDU, das waren die mit der Frage nach Vornamen”.
Wenn wir auf aleatorische Demokratie setzen, sind die Menschen natürlich immer noch so, wie sie derzeit sind. Aber die Rudelbildung entfällt – und die größten Probleme machen Menschen nun mal “zu Klumpen geballt”; denn dann gilt: “Jeder Klumpen hasst die andern Klumpen, weil sie die andern sind, und hasst die eignen, weil sie die eignen sind.”

+ Audio-Empfehlung:Pflegeheime in der Pandemie – Isolation und Einsamkeit“, 30 Minuten Feature von Sonja Ernst. Text gibt es auch zum Nachlesen, aber es lohnt sich, die Zitate im Original zu hören.

+ Zu meinem Paper “Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus” ist in der Berliner Zeitung eine Rezension erschienen. Im Text wird Hendrik Zörner zitiert, Pressesprecher des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV) Er gibt zu bedenken, wie hilflos und fachfremd Journalisten waren: „Anders als der Verfasser der Studie, Timo Rieg, bin ich jedoch der Meinung, dass sich die deutschen Journalisten in ihrer überwältigenden Mehrheit die größte Mühe gegeben haben, die Menschen gut und umfassend zu informieren.“ Quantiative Aussagen mache ich gar nicht, um so lieber würde ich wenigstens über einige der mehreren hundert Fallbeispiele diskutieren, in denen ich Qualitätsdefizite ausgemacht habe.Der DJV als Gewerkschaft ist da in der Tat nicht der richtige Ansprechpartner – aber einige seiner Mitglieder könnten sich ja doch mal mit der Kritik befassen. Paper (pdf): Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus – Eine kommentierte Fallsammlung.

+ Mein kleiner Oster-Essay zur Lage der Demokratie (und der Notwendigkeit grundlegender Reformen) ist in der aleatorischen Szene aufgegriffen und ins Englische übersetzt worden bei Equality by lot.

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