Insider-Debatten blauer Haken über das Elterngeld
+ Der “Fall Fabian Wolff” (Zeit) interessiert mich zwar nicht, aber aus beruflichen Gründen muss ich den ein oder anderen Text dazu doch überfliegen. Und dabei bin ich über folgendes Dogma im Tagesspiegel gestolpert:
>Über die innerjüdische Debatte steht uns nicht-jüdischen Deutschen kein Urteil zu.<
Damit kann ich zwar gut leben, fürchte aber, dass kaum ein Kollege daran Anstoß nehmen wird – womit ich nicht gut leben kann. Denn für einen Sonderstatus dieser einen Community fehlt mir jede Begründung, zumal wenn sie öffentlich miteinander verhandelt. Ich wäre froh darum, wenn Communities ihre Sachen intern regeln dürften, ohne dass Journalisten sich meinen reinhängen zu müssen. Das gilt aber dann in erster Linie mal für Parteien, mit deren Vereinsklimbim uns die Medien Tag für Tag penetrieren. Es ist eine Sache dieser Communities, wen sie in welchen Posten wählen oder als Kandidaten für eine öffentliche Wahl aufstellen. Das gleiche gilt beispielsweise für die Frauenordination in der Katholischen Kirche – absolutes Insiderthema, das Nicht-Katholiken schlicht nichts angehen muss (und weshalb nach der Logik des Tagesspiegel-Beitrags von Andreas Busche, im Falle einer öffentlichen Berichterstattung für die Zielgruppe “Katholiken unter den Rezipienten” eine Kommentierung auch gläubigen Katholiken vorbehalten wäre anstatt “Kostümreformern”).
+ Ich weiß noch immer nicht, ob es mehrheitlich Trotz oder Geiz ist, der so viele, die bei Twitter vor dem Relaunch den kostenlosen “blauen Haken” (der in Wahrheit ein weißer Haken auf blauem Grund ist) hatten und damit ihre Wichtigkeit zur Schau stellen konnten, auf die nun mehr kostenpflichtige Beibehaltung verzichten. Klare Trotz-Reaktionen gibt es natürlich zuhauf (der Art: “Der blaue Haken ist jetzt ein sicherer Indikator, wen man blocken sollte”).
Die Art und Weise, wie Elon Musk die Umstellung organisiert hat, war sicherlich in vielerlei Hinsicht sehr ungeschickt, aber das ist keine hinreichende Begründung. Für Bockigkeit bzw. gekränkte Eitelkeit spricht, dass sich viele im Zuge des Gratis-Haken-Verlusts sehr distanziert bis abfällig über Twitter äußern, ohne dass ein inhaltlicher Grund für den Meinungsumschwung nachvollziehbar wäre. Vielleicht haben sich die einstigen Blau-Haken zuvor als “inner circle” gefühlt, der vom Rabauken Musk verstoßen wurde.
Nun hat Twitter/ “X” gerade die Möglichkeit eingeräumt, den kostenpflichtig erworbenen “blauen Haken” zu verstecken, auf nicht sichtbar zu schalten. Die Strategie wirkt weiterhin erratisch.
+ Für Reiche soll das Elterngeld gestrichen werden. Gegenstimmen werden im Journalismus nach meiner Wahrnehmung ganz überwiegend verlacht, beispielhaft (wenn auch nicht für Journalismus) Anja Rützels Twitter-Post. Ebenso im Podcast Geier & Niesmann. Oder zum Nachlesen in der taz.
Die simple Argumentation: Wer wohlhabend ist, braucht nicht auch noch Geld von der Allgemeinheit. Das stimmt. Aber nur, wenn die Allgemeinheit zugleich darauf verzichtet, für dasselbe Projekt von genau diesen Wohlhabenden Geld zu fordern. Dann nämlich haben wir es nicht wie bei einer Versicherung damit zu tun, dass alle gemeinsam für bestimmte Situationen einzelner eintreten, die prinzipiell jeden treffen können, oder wie bei einer Steuer (ob positiv oder negativ), die von allen etwas fordert oder allen etwas gibt, sondern mit einer Umverteilung von bestimmten Leuten zu anderen bestimmten Leuten.
Diejenigen, die meinen, der Reiche müsse nicht noch mit Steuergeld für die Betreuung seines (privaten) Nachwuchses beglückt werden, übersehen die elementare Frage, von wem denn das Geld stammt, das ausgeschüttet wird. Da es aus dem Staatshaushalt kommt, stammt es von den Steuerzahlern (u.a. Einkommen-/Lohnsteuer und Mehrwertsteuer). Es stammt also von allen – aber in unterschiedlichem Maße.
Warum sollen nun ausgerechnet diejenigen, die das meiste einzahlen, nichts davon bekommen? Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, sondern mit Blindheit. Demokratisch ginge es zu, wenn mit den sog. Wohlhabenden verhandelt würde, ob sie weiterhin ihren entsprechenden Steuersatz zu zahlen und gleichzeitig auf das Elterngeld zu verzichten bereit sind. Denn es wird ihnen ja gerade nichts von den Ärmeren geschenkt – sie geben sich das Geld quasi selbst, genauer: während des Bezugs von Elterngeld zahlen sie netto weniger ein.
Wer das Elterngeld für Gutverdiener und Vermögende doof findet, muss sich grundsätzlich mit den Unterschieden in eben diesem Verdienst oder Vermögen beschäftigen – ein sehr altes Thema.
Ungerecht ist jedenfalls gar nichts daran, dass alle, die die Voraussetzungen erfüllen, Elterngeld bekommen, unabhängig von ihrem wie auch immer ermittelten Bedarf.
Ob sich unter den “Elterngeld für Reiche”-Kritikern überproportional viele Promis finden, die den Gratis-Twitter-Haken für ihr betuchtes Milieu fordern, müsste man mal auswerten, in der kursorischen Evidenz sind mir jedenfalls einige begegnet.
(Siehe zur Grundfrage: “Energiepreisbremse: Wer bezahlt den 200-Milliarden-Euro-Abwehrschirm?“)
+ War die medizinische Aufklärung vor Corona-Impfungen unzureichend? Das legt ein Aufsatz in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) nahe. Da dies im Einzelfall zu prüfen wäre, erlauben sich die Autoren RA Carlos A. Gebauer und Prof. Dr. Katrin Gierhake dazu natürlich kein Urteil. Aber sie dröseln die Rechtslage aus ihrer Sicht auf. Eine Zusammenfassung.
+ Dass die “Letzte Generation” mit ihren Blockaden nicht für mehr Klimaschutz-Sympathie in der Bevölkerung sorgt, war abzusehen, nun deutet es auch eine Befragung an, die explizit auf die Protestform eingeht. Für die Medienkritik ist mal wieder interessant, wie wissenschaftsresistent sich viele Journalisten in diesem Punkt geben. Dass sie persönlich den Protesten zustimmen ist völlig in Ordnung. Aber dass man dies tun müsste, insbesondere juristisch, stimmt eben nicht.
+ Wer jemanden, gegen den nicht einmal eine Anklage vorliegt, einen “mutmaßlichen Sexualstraftäter” nennt, oder wer fortwährend von “Opfern” spricht, ohne dass klar ist, ob es überhaupt Täter gibt, der sollte von der “Unschuldsvermutung” schweigen, liebe taz. #TillLindemann
+ Wie oft doch Journalisten Skandalpotential ungehoben lassen, obwohl Skandalisierung zum Tagesgeschäft gehört. In einem Beitrag zur neuerlichen Krankenhausreform (des Karl Lauterbach) wird interpretiert:
>Für den Patienten heißt das also: Mehr Verlässlichkeit, dass nur Leistungen erbracht werden, die wirklich medizinisch notwendig sind – und nicht nur ökonomisch attraktiv. Vereinbarungen mit Ärzten, wie viele Leistungen erbracht werden müssen, gehören der Vergangenheit an.<
Mit anderen Worten: Bisher mussten Patienten damit rechnen, medizinisch nicht notwendigen Behandlungen unterzogen zu werden – weil es Geld bringt. Diese Annahme galt bisher eher als Geraune. Dabei dürfte jeder einzelne tatsächliche Fall eine Straftat gewesen sein.
Schreibe einen Kommentar