Vom geringen Effekt der Faktenchecks und faktenfreiem Palaver

+ Die Analyse der “Aiwanger-Berichterstattung in der Süddeutschen Zeitung (SZ) hat mir nach 14 Jahren Twitter den ersten erfolgreichen Tweet beschert. Warum der Algorithmus sich ausgerechnet für diesen längeren Text entschieden hat, bleibt mir ein Rätsel, aber bitte, es wird der Aufklärung hoffentlich nicht geschadet haben. Die Materialsammlung dazu ist auf SpiegelKritik im Laufe der ersten Tage gut gewachsen (ein Prof schrieb mir, ich hätte jedes Staubkorn aufgesammelt – sehe ich anders, aber das muss und darf natürlich jeder Leser selbst entscheiden). Im Deutschlandradio habe ich den Fall auch kurz kommentiert (4 Minuten Audio).

+ Im Kern treffen die meisten Kritikpunkte zur Aiwanger-Verdachtsberichterstattung auch auf den Corona-Journalismus zu. Tatsachenvermutungen und Meinungen werden als Tatsachen dargestellt, entsprechend vernachlässigt wird die Recherche, die zu mehr Meinungsvielfalt, Repräsentativität, Maßstabsgerechtigkeit etc. führen könnte. Daher erlaube ich mir nochmal den Hinweis auf mein umfangreiches Paper dazu: “Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus – Eine kommentierte Fallsammlung“.

+ Trotz des bisherigen Umfangs wären noch einige Nachträge zu diesem Corona-Journalismus möglich (evtl. mache ich daher gegen Ende des Jahres noch ein letztes Update). Auf einen für die “Aufarbeitung” relevanten Punkt möchte ich hier hinweisen: “Follow the Science” muss natürlich bedeuten, Erkenntnisse unparteiisch anzuwenden. Da fanden sich bereits 2022 beim Science Media Center interessante wissenschaftliche Kommentierungen der Studie “The ephemeral effects of fact-checks on COVID-19 misperceptions in the United States, Great Britain and Canada“. So sagt Prof. Christian Hoffmann (Uni Leipzig):

>„Nach der aktuellen Studienlage ist die Verbreitung von Misinformation [Englisch] insgesamt gering, wir sind weit überwiegend verlässlichen Informationen ausgesetzt. Die Annahme, dass Nutzer im Netz zufällig einer Misinformation begegnen und stark von dieser beeinflusst werden, ist kaum begründet. Misinformation wird vor allem von solchen Menschen aufgesucht und verbreitet, die damit ihr Weltbild bestärken und andere überzeugen oder kritisieren wollen. Gerade diese kleine entschlossene Gruppe zeigt sich jedoch besonders resistent gegen Faktenchecks.<

Prof. Nicole Krämer (Uni Duisburg-Essen) sagt:

>„Die Tatsache, dass die Korrekturen sich nur als kurzfristig effektiv erwiesen haben, ist aus psychologischer Sicht gar nicht überraschend. Seit den 1990er Jahren ist der Falschinformationseffekt (beziehungsweise continued influence effect) bekannt, bei dem gezeigt werden konnte, dass eine einmal in die bisherigen Wissensstrukturen eingebaute (Falsch)information durch Korrektur nicht einfach überschrieben werden kann. Selbst wenn die betroffenen Personen die neue, korrigierte Information glauben, bleibt die ursprüngliche Information bei späteren Abfragen präsenter, da sie in die Wissensstrukturen plausibel eingebaut wurde.“<

Dr. Lena Frischlich (Uni Münster):

>”Damit zeigt die Studie, dass Faktenchecks zu einer Anpassung der eigenen Einschätzung an die Einschätzung der Faktenchecks führen. Allerdings ist diese Anpassung nicht sehr stabil, wird die ‚richtige‘ Antwort nicht ins Bewusstsein gerufen, pendelt sich die Bewertung der Fehlinformationen wieder auf ihrem vorherigen Niveau ein. Wenn man auf die Schule als Metapher zurückgreift, stellt sich die Frage, ob durch die Faktenchecks wirklich ein Lernen stattfindet oder lediglich vorgesagt wird, was die richtige Antwort ist.“<

Misinformation und entsprechend ihre beschwerliche Behebung wurde und wird dabei jedoch stets nur auf die Seite der Maßnahmen-Kritiker bezogen (vielfach “Corona-Leugner” genannt). Dabei treffen die psychologischen Mechanismen natürlich für die Seite der Maßnahmen-Befürworter und Maßnahmen-Forderer (“Zeugen Coronas” eher selten in den Massenmedien genannt) ebenso zu. Es darf also davon ausgegangen werden, dass dort Fehlannahmen und Falschbehauptungen ebenso konsistent vertreten werden, weshalb wir derzeit bspw. schon wieder die Forderung nach Masken hören und lesen, ungeachtet aller empirischer Befunde zu ihrem höchstens geringen Nutzen. Irrtümer einzugestehen wird beiden Seiten gleichermaßen schwer fallen, abhängig wohl vor allem davon, wie vehement sie einst vertreten wurden und wie sehr man sich entsprechend revidieren müsste.

+ Endlich hat sich jemand gewagt, die intellektuelle Beleidigung des “A-oder-B-Spiels” als solche zu kennzeichnen und sich einem vermeintlichen Publikumszwang zu verweigern: Ferdinand von Schirach im “Alles gesagt”-Podcast. Mich hat es bei diesem Part der Gespräche immer geschüttelt. Denn einerseits soll man spontan entscheiden “Hund oder Katze”, “snoozen oder aufstehen”, “Trump oder Putin” ohne dass irgendein Zusammenhang benannt wäre, andererseits wird dann doch hinterher immer erörtert, warum man sich für dieses oder jenes entschieden habe. (Und dieses “Spiel” wird ja von zahlreichen Podcasts eingesetzt, es ist so populär, dass die ZEIT es sogar als Kartenspiel aufgelegt hatte.)
Von Schirach hat sich nicht nur geweigert, aufs Denken zu verzichten, sondern mit seinem Verzicht auf den Verzicht auch gleich die Unsinnigkeit der Fragen aufgedeckt. Denn zu den Alternativen “snooze” (gemeint ist wohl die “Schlummertaste” am Wecker) oder “aufstehen” merkte er zurecht an, dass man ja irgendwann ohnehin aufstehen müsse, also im Zweifel beide Begriffe benötige.
Auch sonst war es ein sehr interessantes Gespräch, auch wenn von Schirach immer wieder etwas unwillig schien und von Anfang an keine Lust erkennen ließ, sich besonders lange im Wohnzimmer-Studio aufhalten zu wollen. Als großartigen Schriftsteller hatte ich ihn bisher nicht wahrgenommen, fand seine Geschichten langweilig und das Fernsehdrama “Terror” wenig originell. Aber dieses Gespräch hatte sehr viel Tiefe.
Übrigens: Wer, wie so viele, Podcasts nebenbei hört, kann später evtl. mit der automatischen Transkription von Youtube nochmal spezielle Stellen aufsuchen (aufrufbar über den Drei-Punkte-Button). Der Text ist zwar fehlerhaft, aber die wesentlichen Schlagworte findet man mit einer Suche doch.

+ Seit Anbeginn des Internets treibt mich die soziologische Frage um, was Menschen dazu bringt, in Fachforen völlig unnütz aktiv zu sein. Abgesehen von der verbreiteten Unfreundlichkeit, mit der auf Ratgesuche reagiert wird, beginnt praktisch jeder Antwort-Thread mit weiteren Nachfragen (im Computer- und Softwarebereich typisch nach allen möglichen Details der Komponenten und Versionen). Dabei wird jedoch nie verraten, ob es Aussicht auf eine hilfreiche Antwort gibt, wenn der Ursprungs-Fragesteller diese Details benennt. Der weitere Verlauf zeigt denn auch regelmäßig: es kommt kein brauchbarer Ratschlag.
Ist dieses Rückfragen nach Details ein Automatismus, der startet, bevor im Hirn auch nur ganz grob geschaut wird, ob sich mit den weiteren Informationen überhaupt etwas anfangen ließe?
Die Rückfragen wirken regelmäßig so unsinnig wie die Antwort “ich nicht” auf die Frage “Wer weiß…?”.
Antwortet dann doch jemand inhaltlich, beginnt es gerne mit “probier mal” – und es ist in 99% der Fälle ebenfalls nicht hilfreich.
Es antworten in diesen Foren also ganz überwiegend Leute, die entweder mit Rückfragen aufhalten, ohne jemals eine Antwort geben zu wollen oder zu können, und Leute, die schlicht keine Ahnung haben (gerne auch bei sehr einfachen Sachfragen, z.B. “Was für ein Tier ist das hier auf dem Foto?” Antwort (leicht überspitzt): “Könnte eine Maus sein oder ein Mammutbaum, die Aufnahme ist zu schlecht für eine sichere Bestimmung.”
Die zweite soziologische Frage betrifft die Konstitution der Ursprungs-Fragesteller. Denn gibt es doch mal einen auf den ersten Blick plausiblen Hinweis, lautet die Reaktion – wenn es denn eine gibt – in 98% der Fälle: “Danke, werde ich bei Gelegenheit mal probieren.” Was also war der Anlasse für die Frage, wenn sie erst “bei Gelegenheit” weiterverfolgt werden wird? Ein ebenso sinnfrei wirkender Zeitvertreib wie die Beantwortung mit Gegenfragen und Nonsens?
Die technische Frage, die mich noch nicht ganz so lange begleitet, aber immer massiver wird, lautet: Warum schafft Google es bis heute nicht, diese ganzen sinnfreien Threads aus den Suchergebnissen zu verbannen?

+ Apropos Google – Sätze, die Google bisher nicht kennt, obwohl sie ins kollektive Archiv gehören:
“I am very merry to marry Mary.” Fand mein Englischlehrer seinerzeit gar nicht komplett doof.

+ Nein, kein Einsatz. Es ist die übliche Döner-Mittagspause, für welche die Besatzung ihren Rettungswagen mal eben auf dem Radweg (und direkt vor einer Straßenmündung) parkt. Solche Schnappschüsse könnte ich jede Woche posten.

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