Ihr seid mitnichten Charlie
Es gäbe so vieles zu sagen – zu dem vielen Gesagten. In dem meisten Fällen wäre allerdings Schweigen ohnehin besser gewesen. Mein Kompromiss: ein paar Anmerkungen, – ohne große Argumentation, wie so oft beim Bloggen quasi nur für die „Fans“ und fürs eigene Archiv. [Hintergrund: Anschlag auf Charlie Hebdo]
+ Besonnenheit wird später wieder mal eingefordert werden. Natürlich werden sie irgendwann zu vernehmen sein, die Stimmen, die zu recht sagen: bleibt mal auf dem Teppich. Jede Form von Gewalt und Perversion ist möglich, alles gibt es irgendwannn irgendwo. Aber derzeit ist dafür kein Raum, und zwar nicht, weil alle so geschockt sind, wie es heißt, sondern schlicht, weil sich das Thema für Anbieter und Nachfrager hervorragend eignet.
+ „Wir sind die Guten“, so heißt u.a. ein Stück von Volker Pispers, zu hören auf seiner aktuellen CD (Bis neulich 2014) – und das kann er mit der Diskussion um den Terroranschlag auf Charlie Hebdo nun aktualisieren. Ein solcher Gewaltakt wie in Paris ist selbstverständlich keine Lappalie, – und doch fehlt der Einordnung jedes Maß.
+ Wir sind aber nicht alle die Guten. Aufregung und zur Schau gestellte Trauer sind erste Bürgerpflicht. Der Ruf nach friedlichem Miteinander geht immer. Die Forderung von irgendwelchen Verschärfungen zur Sicherheit wes-und-was-auch-immer ebenfalls. Aber was außerhalb dieses Mainstreams liegt, ist der Versuch „aus dem Blutbad politisches Kapital zu schlagen“ (RP und eigentlich überall anders auch), ist „politische Leichenfledderei“ (Telepolis). Wir wären ja auch nicht die Guten, wenn’s nicht genügend Schlechte gäbe, die leicht zu identifizieren sind.
+ Ein Anschlag auf die Meinungsfreiheit, die Demokratie, gar die ganze westliche Welt war das in Paris am 7. Januar 2015 nicht. Es ist eine unsägliche Marotte von Politikern (der Journalisten allzugerne folgen), mit wenigen Worten schier allmächtige Feinde zu konstruieren, um in der Folge jedes Mittel, jede Einschränkung der Freiheit, jede politische Absurdität zu legitimieren.
+ Wer sich zumindest als Fachpolitiker ein solches Attentat tatsächlich bis Mittwoch nicht hat vorstellen können, sollte ganz schnell und dauerhaft zu seiner Modelleisenbahn in den Keller ziehen.
+ Blutspuren gibt es viel. Und viele sind ungleich breiter als die „des Islam“ (Cicero). „Islamisten sind offensichtlich wesentlich effizienter als Christen. Die einen kommen mit ein paar Exekutionen aus, um weltweite Aufmerksamkeit zu erlangen, die anderen müssen Länder plattbomben und Kriegsfront um Kriegsfront eröffnen, um überhaupt noch als Täter wahrgenommen zu werden.“ (Helgoländer Vorbote)
+ Gratismut: Natürlich verstehe auch ich, was mit den unendlich vielen „je suis Charlie“-Bekenntnissen gemeint ist; aber doch kommt es wohlfeil daher. Denn mit der Satire, die „Charlie Hebdo“ seit Jahren macht, wollen die meisten der spontanen Teilhaber nichts zu tun haben. Gute Satire interessiert so wenig, dass wir in Deutschland z.B. kein auch nur annähernd vergleichbares Blatt haben. Und in Frankreich lag die Auflage von Charlie Hebdo bisher bei 45.000. (Siehe dazu auch Reinhardt Gutsche auf freitag.de)
+ Komplett überlüssig sind die vielen „Ich verurteile diesen feigen Anschlag aufs Schärfste“-Plattitüden. Hallo Journalismus! News is whats different. Also kolportiert uns überraschende (!) Befüworter des Massakers – der Rest ist geschenkt.
+ „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ mögen (deutsche) Journalisten gar nicht, und wenn es um Meinungsfreiheit geht ganz besonders nicht. Deshalb verteidigt Spiegel-Online die (westliche, kapitalistische, demokratische …) Meinungsfreiheit mit einem „Satire darf nicht alles Bullshit Bingo„.
Bisher hingegen vermisst: das Bullshit-Bingo für Roland Nelles („Es ist das Szenario, vor dem sich alle gefürchtet haben“, „einige Schritte vom wunderschön-friedlichen Place des Vosges entfernt“, „zwölf unschuldige Menschen“, „hasserfüllte Islamisten“, „trauriger Tag“, „Anschlag auf die Meinungsfreiheit“, „mit aller Härte verfolgt und bestraft werden“ …)
+ Darf man das zeigen? Diese Frage gehört wohl zu den letzten Selbstvergewisserungsversuchen kommerzieller Nachrichtenmedien. Sie impliziert ja immerhin: WIR haben die Macht das zu entscheiden. Wie lächerlich!
Dass weltweit Zeitungen und Digitalmedien Bildausschnitte bzw. Filmsequenzen vom Pariser Attentat gebracht haben, erklärt sich aber wohl gar nicht als Abwägungsprozess: es gab schlicht kein anderes Bildmaterial. Ansonsten ist dem zuzustimmen, was Georg Altrogge vorsichtig andeutet: es sind natürlich Zeugnisse, die in einer freien Gesellschaft zum Informationsangebot gehören müssen. (Und natürlich musste Sebastian Knauer 1987 den toten Barschel fotografieren!) Und wenn Politiker (wie Thomas de Maizière) nach „Löschung“ oder Verbot von realen Dokumenten rufen, ist das fast Grund genug für ihre Verbreitung.
+ Lustig war die Verteidigung der Satire durch den Titanic-Chefredakteur Tim Wolff. „Es lebe der Witz“ rief er aus und machte mit uneingeschränkt wahren Worten klar, wie wenig sein Blatt mit Satire am Hut hat – im Gegensatz zu Charlie Hebdo.
Eine gute Einordnung von Tucholskys Satireverständnis gab schon vor Jahren Friedhelm Greis im Sudelblog.
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