1. Klasse kinderfrei
Zu den mit Sicherheit medial skandalisierten Belanglosigkeiten gehört ein Kinderverbot in Restaurants. Während in anderen, mainstreamkonformen Zusammenhängen Diskriminierung als Ausfluss der Vertragsfreiheit gesehen wird (Accountsperren bei Twitter und Facebook, 2G-Plus etc.), schafft es zuverlässig jede kleine Gaststätte in den Orientierungsjournalismus, wenn sie keine Kinder bewirten möchte. Der Grund ist regelmäßig, dass (unerzogene) Blagen andere Gäste stören und rumsauen.
Wo ist das Problem? Menschen sind verschieden, entsprechend ausdifferenziert sind die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Angebote und Nachfragen. Auf vielen Kinderspielplätzen haben Jugendliche Zutrittsverbot (und damit selbstredend erst recht Erwachsene ohne Kinderbegleitung). In der Sauna mag mancher nicht unfreiwillig zum Aufklärungsobjekt werden. Und auch, wenn ein Rendezvous biologisch der Anbahnung gemeinsamer Brutpflege dient, können lärmende, tobende oder heulende Kinder genau diese Anbahnung behindern. Da es reichlich Gastronomie gibt, die nicht nur offen, sondern teilweise sogar spezialisiert auf Kinder ist (bzw. strategisch über diese auch die lukrativere ältere Sippschaft ins Geschäft zieht), besteht kein Versorgungsnotstand.
Insbesondere in teuren („noblen“) Restaurants spricht übrigens noch ein Sozialisierungsgrund gegen Kinder: Luxus sollte ihnen nicht mehr als unvermeidbar in den Schoß fallen. Aus diesem Grund kommen sie normalerweise mit Kindern aller anderen Einkommensschichten in dieselbe Schulklasse. Und aus diesem Grunde sollten Kinder auch beispielsweise keinen Zutritt zur 1. Klasse der Bahn haben. Stattdessen reisen sie derzeit aber auch dort mit Eltern oder Großeltern gratis – also auf Kosten der anderen Fahrgäste. Für den Nachwuchs in der 1. Klasse bezahlen zu müssen, wäre der notwendige erste Schritt, um dort weniger Kindergeburtstag und Windelwechsel zu haben. Aber es sollte zumindest Bereiche geben, in die auch Reiche ihre Sprösslinge nicht einbuchen können. Schließlich ist es wie immer: meine Freiheit endet, wo ich die Freiheit anderer einschränke. Ab da muss verhandelt werden. Mit dem deutlich höheren Preis in der 1. Klasse kaufen sich Kunden in erster Linie aus der Masse frei. Die wenigsten wollen sich damit in einen Kindergarten einbuchen.
Weil ich keinesfalls etwas gegen lärmende Kinder an sich habe, vielmehr Jahrzehnte lang meine Freizeit damit verbracht habe, Kinder zum Lärmen zu bewegen, verweise ich darauf, schon vor einem Jahrzehnt die Wiedereinführung der 3. Bahnklasse gefordert zu haben.
Und meinetwegen darf es auch über der heutigen 1. Klasse noch weitere Premium-Kategorien geben. Zumal man sich ja durchaus einiges an echtem Komfort vorstellen könnte, den die heutige 1. Klasse der DB nicht bietet (etwa regelmäßig wenigstens eine Tageszeitung und eine Kanne Kaffee an Bord zu haben; ein wenig Platz für die Beine; eine Ablagefläche am Sitzplatz; Luftzufuhr (die es vor Jahrzehnten in jedem klapprigen Schulbus über jedem Sitzplatz gab). In einer Demokratie sollte das kein Problem sein: Denn nach dem Motto „Von wem will wer was wofür warum“ sind bei solchen Up- und Downgrades Anspruchsteller und vom Anspruchsteller Betroffene identisch – sie wollen etwas für sich selbst, ohne andere zu behelligen. Also bitte.
Natürlich gibt es auch regelmäßig den gegenteiligen Vorschlag: die erste Klasse müsste endlich abgeschafft werden (Update: damit tat sich im Juni 2022 Richard David Precht hervor, ab 1h: 24 min). Weil diese Klassengesellschaft aus der Zeit gefallen sei (Precht verortet sie in der „Kaiserzeit“). Weil es gegen die Diversität sei. Weil überhaupt Extramätzchen nicht in Zeiten kollektiven Geistesgleichschritts passen.
Ich halte diese Idee schon immer für absurd, und wer sie nicht spontan, sondern angeblich nach einiger Überlegung äußert, muss an anderer Stelle gewaltig nachlegen, damit ich ihn wieder ernst nehmen kann. Denn so etwas wie die Abschaffung der ersten Klasse bei der Bahn (und entsprechend sicherlich bei allen anderen Verkehrsmitteln) kann nur fordern, wer die völlig gleichgeschaltete Gesellschaft möchte. Wenn wir keine Unterschiede beim Bahnkomfort machen dürfen, wenn dort jede Abgrenzung sozialistisch unterbunden werden soll, dann müssen wir auch alle in den gleichen Wohnungen leben (Quadratmeter-Zuweisung und Ausstattung nach Familienstand statt Einkommen), den gleichen Urlaub machen, das gleiche essen und natürlich das gleiche verdienen. Denn wie willkürlich wäre es, uns die finanzielle Entscheidungsfreiheit nur beim Bahnfahren zu nehmen. Und weil ich „uns zu nehmen sage“: Klar, dass das Ansinnen auch grundlegend undemokratisch ist. Aber das ist leider kein Alleinstellungsmerkmal dieser Idee.
PS: Dass sich die Deutsche Bahn als Betrieb in Familienbesitz versteht zeigt sie an allen Ecken und Enden, gerade, wenn sie sich generös oder „kulant“ gibt (bei Hitze, Sturm etc.). Im Sommer 2022 ist mir die Gratis-Eis-Aktion aufgefallen. Ja, immer schön, Kindern ein Eis zu schenken. Trotzdem ist die demokratische Frage auch hier: wer will was von wem wofür warum? Die Kinder wollen ja erstmal gar nichts, und wenn sie etwas wollen, wenden sie sich – minimal erzogen vorausgesetzt – an ihre Eltern. Nein, irgendwer bei der Bahn möchte etwas von irgenwelchen Bahnkunden, wohl allen, die zum Plus im Fernverkehr beitragen. Sie möchte das, um Eis spendieren zu können. Warum? Keine Ahnung. Zumal die Bahn bei ihrer Spezial-Diskriminierung bleibt: nur Kinder in Begleitung von Eltern oder Großeltern sind hofierte Kinder. Nur die reisen gratis (also auf Kosten der zahlenden Kunden), und nur diese bekommen auch noch ein Gratis-Eis. Fährt die 16-Jährige mit ihrer 13-jährigen Schwester, müssen beide ein Ticket haben (die ältere zum Vollpreis), und keine von beiden bekommt das Eis.
Beim Verschenken gibt es keine Gerechtigkeit. Das kann der Schenker handhaben, wie er mag. Aber die Bahn hat ja gar nichts zu verschenken. Sie kann nur von anderen nehmen und umverteilen – und da müssten in einer Demokratie die Betroffenen entscheiden.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Demokratisierung der Bahn kein Goodie wäre, den es mal geben könnte, wenn alle anderen Probleme gelöst sind, sondern dass sie die zwingende Voraussetzung ist, um den Laden gesellschaftsfähig zu machen.
(Letzte Aktualisierung: 12. August 2022)
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